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Filmkritik
Auf den ersten Blick führt Valeria (Natalia Solián) ein zufriedenes, durchschnittliches Leben. In Raúl (Alfonso Dosal) hat sie einen liebevollen Partner, mit ihrer Familie durchlebt sie die üblichen kleineren Zwiste, und die meiste Zeit ihres Alltags verbringt sie damit, in der häuslichen Werkstatt ihrer Arbeit als Schreinerin nachzugehen. Für das perfekte Bild der kleinen, glücklichen Familie fehlt lediglich ein Kind, und so verwundert es nicht, dass Valeria seit längerem versucht, schwanger zu werden. Doch als endlich ein positiver Schwangerschaftstest vorliegt, beginnt für Valeria ein neues, unheimliches Kapitel in ihrem Leben. Zu ihrem ungeborenen Kind vermag sie keine emotionale Beziehung aufbauen; körperliche Nähe zu Raúl sucht sie vergebens, denn der befürchtet, dem Fötus zu schaden; ihre Werkstatt muss die junge Frau in ein Kinderzimmer umbauen. Zu allem Überfluss wird sie von einer knochigen, dämonischen Gestalt heimgesucht, die zunehmend zu einer Gefahr für Valeria und ihr Kind wird.
Mit „Die Knochenfrau“ präsentiert Michelle Garza Cervera ihr eindringliches Regiedebüt. Ihr gelingt die schwierige Gratwanderung, einen sozialkritischen Horrorfilm zu schaffen, bei dem die emotionale Zwickmühle, in der sich die Protagonistin befindet, stets nachvollziehbar bleibt. Die Zuschauenden mögen recht früh bemerken, was Valeria noch erkennen muss: Der Kinderwunsch ist nicht ihr eigener, sondern sie erfüllt mit der Mutterschaft Erwartungen, die von außen an sie herangetragen werden, nicht zuletzt von ihrer Familie und ihrem Partner. Erst, als die Realisierung des Ideals der Ehefrau und Mutter sie zunehmend in ihrer eigenen Freiheit einschränkt, versteht Valeria, dass sie diese Erwartungen nicht erfüllen kann. Die Schwangerschaft entwickelt sich zu einem Albtraum, in dem sie jeden Monat ein Stück ihrer eigenen Identität verliert und immer häufiger von der furchterregenden, verzerrten Gestalt heimgesucht wird.
Ein unbehagliches Zusammenspiel
Von Anfang an herrscht im Film eine bedrückende Atmosphäre; doch erst nach zwanzig Minuten betritt „Die Knochenfrau“ wirklich das Terrain des Horrorgenres. Das langsame Erzähltempo passt exzellent zum Sujet des Films. Valeria scheint sich in einem konstanten Zustand des Wartens und des Unbehagens zu befinden: Zunächst wartet sie darauf, endlich schwanger zu sein; und die Schwangerschaft selbst ist dann auch ein langes Abwarten – für Valeria nicht nur auf die Geburt, sondern auch darauf, eine Bindung zu ihrem Kind zu entwickeln. Sie befindet sich in einem permanenten Limbo der Machtlosigkeit und des Kontrollverlustes.
Erzählerisch kontrastiert der Film Valerias Passivität mit Szenen aus ihrer Vergangenheit. Sie war einst eine wilde, rebellische und vor allem eigensinnige Frau. Doch mit dieser Person hat die heutige Valeria nur noch wenig gemein. Erst, als sie durch Zufall ihrer Ex-Freundin Octavia (Mayra Batalla) begegnet, erinnert sie sich daran, welche Träume und Wünsche sie einst hatte. Auf visueller Ebene unterstreicht „Die Knochenfrau“ diesen inneren Konflikt immer wieder mit unscharfen Kamera-Einstellungen und Spiegeln. Sie erinnern in nahezu jeder Szene daran, dass dieser Film ausschließlich Valerias persönliche Sichtweise zeigt, und vermitteln ihr Gefühl von Klaustrophobie und Gefangensein auf eindringliche Weise.
Die Produktion kommt weitestgehend ohne „Jump-Scares“, ohne reißerische Schockmomente, aus, denn die könnten von dem atmosphärischen Gefühl von Grauen und Horror, das die Erzählung durchdringt, lediglich ablenken. In den wenigen expliziteren Szenen setzt „Die Knochenfrau“ stattdessen auf Body-Horror – denn welche Ästhetik könnte angemessener sein für den Albtraum, den Valeria durchlebt?
Mexikanische Folklore im modernen Horrorgewand
Der Titel des Films, der im Original „Huesera“ lautet, nimmt Bezug auf eine Gestalt der mexikanischen Sagenwelt. La Huesera (deutsch: „Knochenfrau“), manchmal auch bekannt als La Loba (deutsch: „Wolfsfrau“), ist in der lateinamerikanischen Folklore eine wilde Frau, die in der Wüste Tierknochen sammelt. Ihr gelingt es, ein ganzes Wolfsskelett zusammenzustellen. Als sie zu diesem Skelett singt, wachsen Fleisch, Muskeln und Fell um die Knochen, bis ein lebendiger Wolf vor ihr steht. Das Tier beginnt zu rennen und verwandelt sich schließlich in eine Frau, die lachend dem Horizont entgegenläuft.
Im Film ist diese Sagengestalt auf mehreren Ebenen bedeutungsvoll. La Huesera sammelt das, was sonst verloren gehen und in Vergessenheit geraten würde: Knochen. Und die spielen im Film immer wieder eine zentrale Rolle. Zum einen hat Valeria die unziemliche Angewohnheit, in stressigen Situationen mit ihren Fingerknochen zu knacken – Szenen, die mit einem satten, unangenehmen Sounddesign unterlegt sind. Zum anderen wird die verzerrte Gestalt zum Angst-Bild für die Beunruhigung darüber, wie sich der weibliche Körper im Zuge der Schwangerschaft verformt. Valeria kämpft zunehmend damit, sich selbst im Spiegel zu erkennen, denn dieser Körper ist nicht mehr ihrer.
„Die Knochenfrau“ ist letztlich ein nachdenklicher Film, der geschickt mit seinen intelligenten Metaphern arbeitet und trotzdem immer zugänglich und emotional bleibt. Vielen Frauen, die mit den Erwartungen hadern, die die Gesellschaft traditionell an sie gestellt hat und bis heute stellt, dürfte Michelle Garza Cervera aus der Seele sprechen.