- RegieKevin MacDonald
- Dauer117 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- Cast
- AltersfreigabeFSK 12
- TMDb Rating6/10 (7) Stimmen
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Filmkritik
„Besessen“ ist das Adjektiv, das der Modedesigner John Galliano in dem Porträt von Kevin Macdonald immer wieder in den Mund nimmt, manchmal gleich mehrfach hintereinander: „I was obsessed, obsessed, obsessed!“. Besessen von der Arbeit, von Fitness, Schönheit, Materialien, dem eigenen Körper, von Abel Gances „Napoleon“-Film. Als Kreativdirektor von Dior und als Designer seines eigenen Labels schuf John Galliano in seiner produktivsten Zeit 32 Kollektionen im Jahr – ein Arbeitspensum, das physisch und psychisch nur durch einen verheerenden Cocktail aus Alkohol, Beruhigungs- und Aufputschmitteln zu bewältigen war.
Eine Art Bußgang
Welche Obsession, welche (selbst)zerstörerische Macht, welcher verschobene oder internalisierte Hass dafür verantwortlich waren, dass er an einem Abend im Jahr 2011 in seiner Pariser Stammkneipe Gäste auf wüsteste Weise antisemitisch beleidigte, bewegte seinerzeit nicht nur die Modewelt. Die Frage beschäftigt auch „High & Low – John Galliano“. Kevin Macdonald, der sich mit Künstlerporträts, etwa über Mick Jagger oder Whitney Houston), sowie dem Politthriller „Der letzte König von Schottland“ (2006) einen Namen gemacht hat, stellt diesen Vorfall gleich an den Anfang. Der Film bekommt dadurch unweigerlich den Charakter eines selbsttherapeutischen Geständnisses oder Bußgangs: „Ich werde euch alles erzählen“, verspricht Galliano.
„High & Low – John Galliano“ ist die Geschichte von Aufstieg und Fall, wobei die sprachliche Opposition im Titel auch Gallianos künstlerische Handschrift meint, das vermeintlich „Niedere“ in etwas „Hohes“ zu veredeln. Der in Südlondon aufgewachsene Sohn eines Klempners aus Gibraltar und einer spanischen Tänzerin suchte schon früh Zuflucht in einer fantasievollen Parallelwelt – „Flucht“ im Sinne von Eskapismus ist noch so ein Wort, das häufig fällt. Seine schwule Identität musste er vor dem homophoben Vater verbergen, sonst hätten ihm Prügel gedroht. Auch die Mutter war mit verbalen Attacken nicht zimperlich. Mit einem Stipendium kam Galliano an die renommierte St. Martin’s School of Arts in London, was sich für ihn wie eine zweite Geburt angefühlt haben muss. Seine von der französischen Revolution inspirierte Abschlusskollektion „Les Incroyables“ galt als Sensation. Im selben Jahr gründete Galliano sein eigenes Modeunternehmen.
„Kreativ aufregend, aber finanziell instabil“, heißt es im Film einmal – ein Umstand, der sich eigentlich erst mit der Berufung zum Chefdesigner für Dior änderte. Galliano war maßgeblich daran beteiligt, die Haute Couture von einer elitären Nische zu einer globalen Industrie zu transformieren, gleichwohl war er von ihren Anforderungen – immer mehr verkaufbarer Output in immer kürzeren Abständen – selbst am stärksten betroffen. Nebenbei ist der Film auch ein Abbild technologischer Entwicklungen: Die anfangs matschigen Videobilder, auf denen die Schnitte der Entwürfe oftmals zu flirrenden Farbflecken verschwimmen, weichen irgendwann den digitalen Bildmedien.
Mehr Theater als Show
Gallianos atemberaubende Shows haben weniger mit Fashion als Theater zu tun. Hinter jeder Kollektion steht eine Geschichte, in der die Models nicht als Anziehpuppe über den Laufsteg staksen, sondern auf teils expressive Weise als Schauspielerinnen agieren. Kate Moss, die im Film neben zahlreichen Celebritys, ehemaligen Mitarbeiter:innen und Moderedakteur:innen Auskunft gibt, erinnert sich unter leicht anzüglichem Lachen an Gallianos Anweisung, die Rolle einer noch jungfräulichen, dabei aber extrem sexwilligen Lolita einzunehmen.
Aus heutiger Sicht irritierend bis merkwürdig sind nicht nur die in Szene gesetzten Geschlechterstereotypen, sondern auch der recht unbekümmerte Umgang mit kulturellen Einflüssen. Galliano bediente sich hemmungslos an indigener Kleidung, an historischen chinesischen Gewändern, an den zerschlissenen Lumpen der Wohnungslosen an der Seine, die nach der umstrittenen „Clochard“-Kollektion wütend vor dem Modehaus protestierten. Von unbändiger kreativer Lust getrieben, hatte Galliano eher Oberflächen als Kontexte im Blick, was sich auch darin manifestierte, als er sich in New York im Gewand eines chassidischen Juden präsentierte.
Eigentlich müsste der Film „High & Low & High“ heißen, denn Gallianos Geschichte ist auch die einer außergewöhnlichen Rehabilitierung, nicht zuletzt dank mächtiger Unterstützer:innen wie etwa der Vogue-Chefin Anna Wintour. „Die Modewelt hat ein sehr kurzes Gedächtnis“, bemerkt die Journalistin Robin Ghivan dazu trocken, insbesondere, wenn es sich dabei um weiße Männer mit mächtigen Freunden handele. Nach seinem Rauswurf bei Dior und dem Prozess wegen öffentlicher antisemitischer und rassistischer Beleidigungen begab sich Galliano in eine Entzugsklinik, traf sich mit Vertretern jüdischer Organisationen und nahm bei einem Rabbi einen eigens auf ihn zugeschnittenen Nachhilfeunterricht. Vier Jahre nach seinem tiefen Fall wurde Galliano zum Kreativdirektor der Modemarke Maison Martin Margiela berufen. Mit seinen jüngsten Shows, etwa der fantastischen „Artisanal 2024“-Kollektion, konnte er endgültig wieder an seine größten Zeiten anschließen. Die Modewelt liegt ihm zu Füßen.
Ein erstaunlich differenziertes Porträt
Für eine Mode-Dokumentation, die vom Medienunternehmen Condé Nast co-produziert wurde, das auch die Zeitschrift „Vogue“ herausgibt, in der Gallianos Karriere schon früh gefördert wurde, lässt der Film ein erstaunlich differenziertes Bild zu. Psychiater, Suchtexperten und Verbündete sprechen Galliano frei; es werden aber auch kritische Stimmen gehört. Auch eines der Opfer kommt zu Wort. Der sichtbar traumatisierte Mann bezweifelt die Aufrichtigkeit von Gallianos Reue; bis heute habe der Designer sich bei ihm nicht entschuldigt.
Auch Galliano ist sichtbar gezeichnet; von seinen Ausfällen zeigt er sich nachhaltig beschämt. Wirklich zu greifen aber ist er nicht. Mal wirkt er reflektiert und nachdenklich, dann wieder leicht zerstreut. Dass es mehrere Vorfälle in dem Pariser Lokal gab, hat er offensichtlich schon wieder vergessen. Der Film „High & Low – John Galliano“ könnte ein weiterer Schritt zu seiner Rehabilitierung sein, auch wenn das Gelände uneben bleibt.