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Leider gibt es keine Kinos.
Filmkritik
Im Anfang war das Wort und das Wort war: „Blau“. Im fernen Estland wünschte sich ein kleines Mädchen von seinem Großvater ein blaues Fahrrad. Aber der Händler hatte nur ein rotes Fahrrad im Laden stehen. Aber er hatte ein Mobiltelefon und „Zulieferer“ in Dänemark. Und weil eines Morgens in Dänemark ein blaues Fahrrad fehlte und ein Auto nicht ansprang, nahmen Mutter und Tochter die S-Bahn in die Stadt. Die war zur morgendlichen Rush-Hour bestens gefüllt, weshalb es ausgesprochen freundlich war, dass das Mathematik-Genie Otto seinen Platz der Mutter anbot, damit diese sich setzen konnte. Kurz darauf aber ereignete sich ein Unglück mit vielen Toten, darunter auch die Mutter.
Wer ist schuld am Tod der Mutter? Der Großvater? Das kleine Mädchen? Der Fahrradhändler? Dessen Zulieferer? Das defekte Auto? Otto? War es ein Zufall? Oder Schicksal? Und was war gleich nochmal der Butterfly-Effekt? Überhaupt: War es ein Unglück? Oder ein Anschlag?
Sechs Jahre nach „Men & Chicken“ und 16 Jahre nach „Adams Äpfel“ hat Anders Thomas Jensen wieder selbst die Regie übernommen, um mit „Helden der Wahrscheinlichkeit“ eines seiner eigenen Drehbücher zu realisieren. Er vertraut dabei weiterhin auf die einst sehr erfolgreiche Rezeptur. Eine Gruppe eher etwas seltsamer bis schwer beschädigter Männer, gespielt von den Stars des dänischen Kinos wie Mads Mikkelsen oder Nikolaj Lie Kaas, agiert in einer Geschichte, die oberflächlich eine schwarze Komödie voller bizarrer Einfälle zu sein scheint, in Wahrheit aber durchaus ernsthaft mit philosophischen, theologischen oder ethischen Fragestellungen jongliert. Oder ist es eher umgekehrt?
Wenn man nur lange genug hinschaut
Anlässlich von „Adams Äpfel“ hat Jensen im Gespräch eine gewisse Reserve gegenüber der Askese des Kinos von Carl Theodor Dreyer oder Robert Bresson erkennen lassen, weil diese das Publikum nicht mehr erreiche. Er dagegen, so Jensen, setze auf Unterhaltung, auf Genrefilme mit einem seriösen Twist. Das ist im Falle von „Helden der Wahrscheinlichkeit“ nicht anders. Es ist ein Revenge-Movie, ein Rachefilm, ausgehend von einer Kontingenz-Erfahrung und Trauerarbeit, verbunden mit einer „toxischen“ Männlichkeit in Gestalt einer Gruppe von Freaks, die sich gegen eine andere Gruppe von Freaks richtet. Es geht hier, um Theodor Lessing zu paraphrasieren, um Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. Man kann es damit zumindest einmal versuchen. War nicht der Kronzeuge eines aktuellen Rocker-Prozesses ebenfalls unter den Opfern des Zugunglücks? Ist da nicht jemand unmittelbar vor dem Unglück aus dem Zug gestiegen, der sich verdächtig benahm? Der Statistiker in Otto wittert etwas und nimmt die Spur auf. Der exzentrische Hacker und gewaltbereite Soziopath Emmenthaler lässt Gesichtserkennungsprofile durch die Rechner laufen, korrigiert die Trefferquote sanft nach unten, bis sich passende Puzzleteilchen einstellen. Schaut man lange genug auf unscharfe Details, wird das Gesamtbild irgendwann bestechend scharf.
Mit diesem Gesamtbild konfrontiert das Trio dann den Witwer Markus, den die Nachricht vom Tod seiner Ehefrau bei einem Kriegseinsatz im Ausland erreichte. Markus ist kein Mann großer Worte; er löst Konflikte auf soldatische Weise vorzugsweise mit Gewalt. Jetzt steht ein Quartett beschädigter, mit unterschiedlichen Traumata versehener Männer bereit, ihrer Verschwörungstheorie gewaltbereit nachzugehen, gewissermaßen als eine Art von Gruppentherapie. Ziel ist die als äußerst brutal und skrupellos geltende Rockerbande „Riders of Justice“, die sich ihrerseits nun damit konfrontiert sieht, selbst zum Opfer unerhörter Gewaltakte zu werden, für die die Rocker keine Erklärung haben.
Verstörende Einzelszenen, erratisch platziert
Anders Thomas Jensen vernäht die den Genre-Regeln folgende dynamische Rachegeschichte allerdings mit Blicken in die persönlichen Abgründe und Traumata des Quartetts plus der Tochter Mathilde und einem aus der Sex-Sklaverei befreiten Jungen. Weil diese Naht eher locker ist, führt dies zu allerlei verstörenden Einzelszenen, die teilweise auch nicht in umständlich erklärende Dialoge aufgelöst sind, sondern erratisch im Raum stehen.
Gleichzeitig entsteht aber aus den unterschiedlichen Bewältigungsstrategien von Kontingenzerfahrungen auch eine neue Gemeinschaft aus Soziopathen, die dem Sinnlosen auf eine andere, überraschende Weise Sinn verleiht. Jedenfalls staunt man nach zwei Stunden, die nicht immer überzeugen und sich mitunter allzu leicht auf schwarzhumorige Schocks verlassen, wozu der Wunsch nach einer anderen Fahrradfarbe führte. Hinter der Action verbirgt sich, so Anders Thomas Jensen, die Frage nach dem Sinn des Lebens. Das allerdings könnte Zufall sein.