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Filmkritik
In ihrem langen Arbeitsleben hat es die Schneiderin Esther weit gebracht. Als Atelierchefin des Pariser Haute-Couture-Hauses Dior erweckt sie die aufs Papier skizzierten Entwürfe des Modeschöpfers zum Leben, beaufsichtigt das Handwerk der Näherinnen und vermittelt zwischen Kreativabteilung und Schneiderwerkstatt. Dass sie tagtäglich mit Stoffen arbeitet, die drei Monatsgehälter übersteigen, findet sie normal. „Ein Beruf erweckt deinen Stolz, deine Vorstellungskraft, das Gefühl nützlich zu sein“, belehrt sie einmal Jade, ein aufmüpfiges Mädchen aus der Banlieue, das schnodderig von einem „Job“ spricht.
Um die Welt ein bisschen schöner zu machen, opferte sich bereits Esthers Mutter für die Arbeit im Schneideratelier auf und vernachlässigte darüber die Familie; sie selbst hat es nicht anders gemacht. Zu ihrer Tochter hat sie schon seit Jahren keinen Kontakt mehr, und Freundschaften kennt sie nicht. Nach ihrer bevorstehenden Pensionierung erwartet sie eine Leere, die sie schon jetzt mit Pillen und süßem Zeug stopft. In dem Chanson, mit dem „Haute Couture“ beginnt, ist von einer Frau die Rede, die nicht „wirklich“ lebt.
Die geklaute Handtasche
Um die Verbindung zum Leben wiederzufinden, wirft der Film von Sylvie Ohayon der zuckerkranken Direktrice das Banlieue-Mädchen vor die Füße. Jade hat keine Zukunftsaussichten, ihre Mutter ist schwer depressiv und verlässt die Wohnung nicht. Nachdem sie Esther in der Métro die Handtasche klaut und aus schlechtem Gewissen wieder zurückbringt, hat sie kurz darauf eine Praktikumsstelle im Haute-Couture-Atelier. Dort stellt sie sich als begabte Näherin heraus.
Fragen nach Glaubwürdigkeit sollte man in „Haute Couture“ besser nicht nachgehen. Die märchenhafte Geschichte über die lebensverändernde Begegnung von Mentorin und Schülerin hat mit dem echten Leben so wenig zu tun wie mit der Welt der Mode. Die knallharte Realität hinter den Schneiderateliers der Pariser Haute-Couture-Häuser ist schon lange kein Geheimnis mehr. 14-Stunden-Tage und durchgearbeitete Nächte sind an der Tagesordnung. Oft verdient eine Näherin für ein Kleid, das für eine sechsstellige Summe verkauft wird, gerade mal den Mindestlohn.
Diese Diskrepanzen will der Film zwar kennen, aber weder zeigen und schon gar nicht beklagen. Jade wird zwar auch am Samstag zur Arbeit verdonnert. Doch für Ohayon ist das Schneideratelier vor allem ein Ort beherzter pädagogischer Worte und – trotz einer intriganten Schneiderin, die Jade eins auswischen will – freundschaftlicher Beziehungen. Nebenbei wird auch immer an irgendetwas genäht, herumgezupft und drapiert.
Ein schlichtes Pingpong
„Haute Couture“ folgt einem schlichten Pingpong. Auf der einen Seite das Atelier Dior auf den Champs-Elysées im 8. Arrondissement, auf der anderen die Banlieue des Départments Seine-Saint-Denis mit den grauen Sozialbauten, hier die sauberen weißen Arbeitskittel, Calais-Spitze und Seidentüll, dort die Menschen in den Trainingsklamotten und praktischen Polar-Fleece-Jacken. Kleine Seitenhiebe gegen die Mechanismen in der Modewelt, etwa die „Scheiß-Angst“ vor dem Couturier, die abergläubischen Rituale oder das Glätten arabischer Namen im Lebenslauf, verpuffen ebenso wie die angedeuteten sozialen Härten.