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Filmkritik
Der Kosmonaut ist gelandet. Schwarz-weiße Archivbilder zeigen Juri Gagarin, den ersten Menschen im All, der in Ivry-sur-Seine wie ein Popstar empfangen wird. 1963 wird in dem südlichen Vorort von Paris ein Sozialbau eingeweiht, der als Emblem der modernen Architektur den Namen des russischen Raumfahrers erhält. Jubelnde Massen aus der Cité Gagarine begleiten den Auftritt des Russen, der sein strahlendes Lächeln aufgesetzt hat und sich über das Gelände führen lässt. Auch der gewaltige Hochhauskomplex scheint zu strahlen, über die Trabantenstadt hinaus bis in die Metropole Paris hinein. Anscheinend trübt nichts die allgegenwärtige Aufbruchstimmung.
Doch so wie die Farbe die schwarz-weiße Nostalgie des Anfangs verdrängt, zieht auch der Ernüchterungsprozess der folgenden Jahrzehnte in den Film „Gagarin - Einmal schwerelos und zurück“ ein. Der muntere Weltraumpionier ist mit 34 Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen; die Raumfahrt hat ihre Popularität eingebüßt. Und auch die französischen Banlieues haben sich keineswegs zu modernen Vorzeigevierteln entwickelt, sondern stehen heute für Armut, Perspektivlosigkeit und Kriminalität.
Von den Fassaden bröckelt der Putz
Wenn die eigentliche Handlung des Films von Fanny Liatard und Jérémy Trouilh einsetzt, bietet die Cité Gagarine zwar noch immer einen imposanten Anblick, doch ist dies der einer gigantischen Müllhalde. An der roten Backstein-Fassade bröckelt der Putz. Zäune und Fenster sind beschädigt, die Hausflure starren vor Schmutz. Auch Licht und Fahrstühle funktionieren so selten, dass sich die genervten Bewohner fast danach sehnen, dass ihr Viertel lieber heute als morgen abgerissen wird.
Es herrscht ein Fatalismus, auf den der 16-jährige Youri (Alseni Bathily) nur entsetzt reagieren kann. Youri trägt nicht nur in seinem Vornamen einen kleinen Rest vom Optimismus aus dem Gagarin-Zeitalter in die 2010er-Jahre hinein. Er geht auch mit konkreten Maßnahmen gegen den Verfall des Gebäudes an. Der findige Jugendliche beschafft Ersatz für die kaputten Lampen, tüftelt mit technischem Geschick an der Elektronik der Fahrstühle herum und ist mit Eifer dabei, die vielen hässlichen Ecken der Häuser auszubessern. Er übermalt sie und will die Gegend auch auf andere Art wieder schöner und lebenswerter machen.
Unterstützt wird er von seinem Freund Houssam (Jamil McCraven) sowie dem Mädchen Diana (Lyna Khoudri) aus einem Roma-Lager nahe der Cité Gagarine, auch einige ältere Bewohnerinnen wie seine Nachbarin Fari (Farida Rahouadj) bauen ihn moralisch auf. Als Youri ein Zelt konstruiert und im Hof aufstellt, mit dem eine Sonnenfinsternis betrachtet werden kann, vereint das Ereignis die Nachbarn noch einmal. Doch der wohlmeinende, von seiner alleinerziehenden Mutter vernachlässigte Junge kann das Unvermeidliche nicht aufhalten. In dem Moment, als die Behörden den maroden Gebäudekomplex unter die Lupe nehmen, ist dessen Schicksal besiegelt. Innerhalb von sechs Monaten müssen alle Bewohner ausziehen, danach soll das komplette Gebäude abgerissen werden.
Wendungen zum Besseren
Von Beginn an fällt auf, wie sehr sich das Spielfilmdebüt vom gewohnten Kino-Blick auf die Banlieues unterscheidet. Denn Werke wie „Lärm und Wut“, „Hass“, „Mädchenbande“ oder „Die Wütenden“ sind ungeachtet aller Unterschiede in einem einig: ihrer Vision der Vorstädte als Orte der gesellschaftlich Abgehängten, der Gewalt und sozialen Verwahrlosung. Die Regisseure blenden das zwar nicht aus, doch sie lassen es analog zu ihrer Hauptfigur nicht zu, dass Negativbilder die Sicht auf die Cité Gagarine bestimmen.
Der Aktionismus von Youri erscheint nicht weltfremd, sondern rührend in seinen Absichten und besitzt durchaus Potenzial, eine Wendung zum Besseren anzustoßen. Vor allem aber zeigt „Gagarin“, dass der wuchtige Hochhausbau für seine Bewohner nicht zwangsweise eine Wohnhölle darstellt, sondern vor allem ihre Heimat ist – in manchen Aspekten abenteuerlich oder bedrängend, aber auch beschützend und aufgeladen mit Erinnerungen und Hoffnungen.
Auch wenn man die Entscheidung der Behörden durchaus verstehen kann, erzeugt der Film doch vor allem Anteilnahme für diejenigen, die die Konsequenzen dieses Abbruchs zu spüren bekommen. Liatard und Trouilh greifen effektvoll auf dokumentarische Bilder zurück, die sie von der realen Räumung der Cité Gagarine 2014 bis zur Sprengung 2019 aufgenommen haben. Doch dann lassen sie die dokumentarische Ebene hinter sich und tauchen stattdessen noch tiefer in die Perspektive von Youri ein: ein Träumer mit einer gleichsam symbiotischen Beziehung zu dem Ort, an dem er aufgewachsen ist.
Entsprechend wird der Film auch fabulierfreudig und märchenhaft, eine Entwicklung, die die Regisseure mit höchster Selbstverständlichkeit verfolgen, zumal sie sich bereits früh anbahnt. Etwa wenn ein Schrottplatz-Verwalter auftritt, den Denis Lavant spielt, der seit „Die Liebenden von Pont-Neuf“ stets eine gute Besetzungswahl für nahtlose Übergänge von bedrückender Realität in poetische Sphären ist. In „Gagarin“ vollzieht sich dieser Wandel immer stärker, sobald der Gebäudekomplex von seinen Bewohnern verlassen und das Gelände mit Zäunen abgesperrt ist. Youri bleibt in dem Haus zurück, das er keineswegs aufgeben will, und legt es nun noch mehr als zuvor darauf an, dieses am Leben zu erhalten. Lediglich Diana und der junge Dealer Dali wissen, dass der Junge in der Cité Gagarine zurückgeblieben ist, doch auch sie sind überrascht von seiner Sturheit und seinem Einfallsreichtum. Denn Youri richtet sich in dem Gebäude wie in einer Raumstation ein, die sich gegen die menschenfeindliche Leere behaupten muss. Er züchtet Nutzpflanzen und Gemüse und experimentiert mehr denn je mit elektronischen Hinterlassenschaften.
Wahn und Wirklichkeit
Indem sie die Reaktionen seiner wenigen Vertrauten aufgreifen, verbergen Liatard/Trouilh nicht, dass es sich um einen Prozess wachsender Wahnvorstellungen handelt; zugleich aber nehmen sie Youris Selbstwahrnehmung als einsamer Astronaut filmisch ungeheuer ernst. Fantasie-Sequenzen, die mit der Weltall-und-Raumstation-Allegorie spielen, geben „Gagarin“ eine zunehmend klarere Science-Fiction-Anmutung, die sich zum Ende hin mit bestechender filmischer Logik mit dem realen Countdown bei der Sprengung des Gebäudes verbindet.
Es ist kein zu hoch gegriffener Vergleich, bei den überraschenden Bildern von Kameramann Victor Seguin an die Ideen von Stanley Kubricks „2001“ zu denken, zu denen sich eine kongenial schwebende Musik und die außergewöhnlich stimmigen Leistungen der jungen Hauptdarsteller treffsicher ergänzen. Durch die behutsame Inszenierung wirkt die Poesie, die in „Gagarin“ aus dem vorurteilsfreien Blick auf die so oft dämonisierten Vorstädte erwächst, nie aufgesetzt, sondern nur konsequent. Etwas vom Drang der Raumfahrt-Pioniere, Grenzen zu überwinden und Fesseln abzustreifen, steckt tatsächlich in diesem erstaunlichen Film. Wie „Gagarin“ es fertigbringt, authentische Gefühle, gesellschaftskritischen Elan und pure Leinwandmagie zusammenzubringen, gehört zu den spannungsvollsten Kinoerfahrungen der letzten Zeit.