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Filmkritik
Als die Macher:innen des Spielfilms „Call Jane“ ihr Werk beim Sundance Film Festival und später bei der Berlinale 2022 vorstellten, haben sie wohl geahnt, welche Aktualität es ein paar Monate später erlangen würde. Denn seit dem Urteil des US-amerikanischen Supreme Court im Juni 2022, mit dem das bundesweite Recht auf Schwangerschaftsabbruch in den USA gekippt wurde, droht Zehntausenden Frauen ein ähnliches Schicksal wie das der Protagonistinnen in dem Drama von Phyllis Nagy. „Call Jane“ spielt 1968, fünf Jahre vor dem Urteil „Roe versus Wade“, das Abtreibungen legalisierte. In einem Klima der Angst müssen Schwangere, die aus den unterschiedlichsten Gründen abtreiben wollen, mit gravierenden gesundheitlichen Risiken rechnen; von strafrechtlichen Folgen im Falle eines Auffliegens ganz zu schweigen.
So geht es auch Joy (Elizabeth Banks), einer klassischen Mittelstands-Hausfrau. Ihr Ehemann Will (Chris Messina) fungiert als Ernährer, während Joy sich um die Tochter im Teenager-Alter kümmert und das Haus in der gutbürgerlichen Vorstadt in Schuss hält. Als Joy unverhofft noch einmal schwanger wird, teilt man ihr mit, dass sie die Geburt aufgrund einer Fehlfunktion ihres Herzmuskels womöglich nicht überleben würde. Ein Gremium im Krankenhaus lehnt ihren Antrag auf einen „therapeutischen Abbruch“ ab. Die Überlebenschancen des Kindes stünden schließlich sehr gut. Also entschließt sich Joy zu einer Abtreibung, ohne ihren Mann zu informieren.
Hinter Jane verbirgt sich ein Netzwerk
Auf einer Straße im Stadtzentrum stößt sie zufällig auf einen vielversprechenden Aufkleber, der damit wirbt, eine gewisse „Jane“ anzurufen. Diese Jane gibt es zwar nicht, dafür aber einen Zusammenschluss feministischer Aktivistinnen, die Joy gegen 600 Dollar Gebühr eine fachgerechte Abtreibung organisieren. Der Eingriff verläuft ohne Komplikationen, sodass Joy ihrer Familie danach erzählen kann, dass sie eine Fehlgeburt erlitten habe. Doch sie ist den Frauen unter Führung der resoluten Virginia (Sigourney Weaver) dankbar und so fasziniert von deren Solidarität, Kampfgeist und Entschlossenheit, dass sie bald Teil ihres Netzwerks wird.
Joy holt die Frauen mit dem Auto ab und fährt sie zu Dr. Dean (Cory Michael Smith), der den Eingriff vornimmt, oder betreut sie danach. Da Dean zwar handwerklich auf der Höhe ist, aber wenig Einfühlungsvermögen gegenüber seinen verängstigten Patientinnen an den Tag legt, leistet Joy den Frauen seelischen Beistand, assistiert dem Arzt bald und lernt so selbst, wie man einen Abbruch vornimmt.
So schildert der Film die allmähliche Wandlung einer privilegierten Frau, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse nie in Frage gestellt hat – bis sie selbst ihre Schattenseiten kennen lernt. Joy wird dabei selbst nicht zur Revolutionärin, doch sie erlangt ein neues Selbstbewusstsein. Da ihre neuen Kameradinnen frauen- und bürgerrechtsbewegt sind, lernt sie auch neue Denkweisen und Haltungen kennen. Außerdem erhält sie einen Einblick in die Situation von prekär lebenden Frauen, die die Gebühren für die Schwangerschaftsunterbrechung nie allein aufbringen könnten. Für schwarze Frauen gibt es bald sogar eine Quote und eine Kostenübernahme, und so spiegelt der Film im Mikrokosmos der verschiedenen „Janes“, darunter auch eine Nonne, die übergeordnete US-Gesellschaft wider.
Gesellschaft im Aufbruch
Die befindet sich im Aufbruch, und das erkennt man im Film nicht nur an den auf Häuserwände gemalten Slogans wie „Power to the people“, sondern auch an der Kleidung der Janes. Jeans mit Schlag, Blümchenblusen, Vesten und Stirnbänder kontrastieren etwa mit der Aufmachung Joys. Deren bis dahin braves Wesen spiegelt auch ihre Garderobe wider: Perlenkettchen und in gedeckten Farben gehaltene Damenkostüme. Auch der Soundtrack punktet mit aufrüttelndem Sechzigerjahre-Pop von Janis Ians „Sweet Misery“ bis hin zu „Sister Ray“ von The Velvet Underground.
Stellvertretend für andere amerikanische Frauen wird sich Joy auch bewusst, welche beruflichen Möglichkeiten ihr in einem frauenfreundlicheren Klima offen gestanden hätten. Während dem kompetenten, aber eingebildeten Dr. Dean nur einfällt, dass sie eine gute Krankenschwester abgibt, dämmert Joy, dass sie auch Ärztin hätte werden können. Denn Männer dominieren wie selbstverständlich ganze Berufsfelder, darunter auch die Medizin. Als das Klinikgremium am Anfang des Films über Joys Fall befindet, besteht es ausschließlich aus Männern. Sie sprechen nur Will an und reden von Joy in der dritten Person, obwohl sie genauso anwesend und die eigentlich Betroffene ist. Dass die Generation von Joys Tochter es einfacher haben wird, macht der Film klar.
Ohne brenzlige Situationen
Ansonsten wartet die Regie von Phyllis Nagy nicht mit besonderer Originalität auf und storytechnisch läuft alles ein wenig zu glatt: wahre Konflikte und brenzlige Situationen entstehen nie, auch wenn der Film das allgegenwärtige Klima der Angst nachvollziehbar inszeniert. Gegen die Brisanz der Annie-Ernaux-Adaption „Das Ereignis“ etwa wirkt „Call Jane“ etwas blass. Dennoch lässt man sich auf die Figuren ein, zumal man sowohl der vom Hausputtchen zur Vorstadt-Rebellin mutierenden Elizabeth Banks als Joy als auch Sigourney Weaver als engagierter, fordernder, aber auch empathischer Virginia gerne zuschaut.