Vorstellungen
Filmkritik
Es ist wohl kein Geheimnis mehr, dass der neue Film von Aki Kaurismäki, „Fallende Blätter“, ein hoffnungsvolles Ende hat. Man kann also mit der letzten Einstellung beginnen: Das Liebespaar geht von der Kamera weg in die Tiefe des Bildes, einer Glück verheißenden Zukunft entgegen. Der Mann fragt die Frau, welchen Namen der Hund an ihrer Seite habe. „Chaplin“, antwortet sie. Diesen Namen hat Kaurismäki seiner Protagonistin in den Mund gelegt. Charles Chaplin ist eines seiner großen Vorbilder. Beiden Regisseuren ist gemein, dass sie Komik und Tragik, sozialen Realismus und filmische Abstraktion in unnachahmlicher Weise zusammenführen. Die letzte Einstellung, die Kaurismäki wählt, ist eine Reminiszenz an „Moderne Zeiten“ (1936), in dem Chaplin sein Liebespaar auf sehr ähnliche Weise aus dem Film gehen lässt.
Niemand kann das so gut wie Aki Kaurismäki
Auch „Fallende Blätter“ spielt in einer modernen Zeit. Die sozialen Realitäten der Gegenwart mögen sich in vieler Hinsicht geändert haben. Doch um Menschlichkeit muss auch heute noch gerungen werden. Es ist ein zeitloses Unterfangen. Die Moderne konnte nur bedingt Abhilfe schaffen. Das hat Kaurismäki bereits in seiner Arbeitertrilogie „Schatten im Paradies“ (1986), „Ariel“ (1988) und „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ (1990) herausgestellt. Es handelt sich auch nicht um ein spezifisch finnisches Phänomen. Die Tristesse in den Filmen von Kaurismäki lässt sich auch woanders inszenieren. Doch keiner kann das so gut wie er.
Das Erzählkonzept ist fast so alt wie das Medium Film. Ein Mann trifft eine Frau und es passiert etwas. Boy Meets Girl. Doch man kann diese Konstellation auch umdrehen. Girl Meets Boy. Ansa (Alma Pöysti) und Holappa (Jussi Vatanen) treffen sich zwar zufällig in einer Karaoke-Bar, doch ist sie eindeutig die aktivere von beiden. Sie hat auch ihr Leben mehr im Griff als er. Sie sind beide einsam, beide verlieren ihren Job. Doch sie kann besser damit umgehen. Als ihr Supermarkt-Chef sie rausschmeißt, weil sie abgelaufene Lebensmittel mit nach Hause nimmt, fällt sie nicht in die Opfer-Rolle. Sie kontert stattdessen und lässt mit Hilfe ihrer Kolleginnen den erbärmlich autoritär auftretenden Boss ganz schön alt aussehen.
Wiedersehen im Kino
Sie findet einen neuen Job, auch wenn der sich als noch schlimmer erweist. Auf diese Weise trifft sie Holappa wieder, als ihr neuer Chef gerade von der Polizei abgeführt wird. In seiner Bar hatte er wohl noch andere Dinge am Laufen. Ansa und Holappa gehen einen Kaffee trinken. Am Tresen sieht Ansa im Spiegel, welche Schwäche Holappa hat. Er reichert seinen Kaffee mit Alkohol an. Doch so schnell gibt sie Holappa nicht auf. Einfach macht er es ihr aber nicht. Nach einem gemeinsamen Kinobesuch gibt sie ihm ihre Telefonnummer, die er sofort verliert, als er in seine Tasche greift, um seine Zigaretten herauszuziehen. Ihren Namen hat sie ihm nicht verraten.
Am Kino versuchen beide, sich zufällig zu begegnen. Eines Abends klappt es. Sie lädt ihn zum Essen ein. Sie hat inzwischen eine andere Arbeit gefunden. Nach dem Essen erwischt sie ihn an der Garderobe beim Trinken. Die kleine Flasche Sekt, die sie zum Essen besorgt hat, reichte ihm nicht. Mit einem Trinker wolle sie nicht zusammen sein, sagt sie ihm. Er lasse sich nichts befehlen, sagt er und geht.
Holappa verliert auch seinen neuen Job auf dem Bau. Der soziale Abstieg scheint sich nicht mehr aufzuhalten zu lassen. Doch da gelingt es Holappa, mit dem Trinken aufzuhören. Ein auf ihn zugeschnitten wirkender Song, den eine Frauen-Band in einer Bar singt, öffnet ihm die Augen. Es ist eine der Qualitäten von Kaurismäki, dass er nicht den Kampf eines Mannes gegen seine Alkoholsucht erzählt. Holappa liegt eines Abends in einer Pension im Bett, denkt vermutlich an Ansa, steht auf und schüttet den Schnaps, den er noch besitzt, in das Waschbecken. Das war’s. Eine Hürde wird ihm noch in den Weg gestellt, die ihn aber nicht stoppen kann.
Lakonischer Minimalismus & Humor
Kaurismäki erzählt einmal mehr mit lakonischem Minimalismus und Humor. Als Holappa mit seinem Kumpel Huotari (Janne Hyytiäinen) einen trinken geht, fragt dieser ihn, warum er trinke. Weil er depressiv sei, antwortet Holappa. Warum er depressiv sei, hakt Huotari nach. Weil er trinke, meint Holappa. Das ist ein typischer Kaurismäki-Dialog und könnte auch schon in einem seiner früheren Filme vorgekommen sein. Doch das ist egal. Einen guten Witz hört man sich auch öfters an.
Der Humor findet sich auch in den filmgeschichtlichen Zitaten, die Kaurismäki in „Fallende Blätter“ einbaut, meist in Verbindung mit seinen Regie-Vorbildern wie Robert Bresson und Jean-Luc Godard. Herrlich komisch ist die Szene, wenn Holappa mit Ansa ins Kino geht und man zuerst befürchtet, es passiere etwas ähnliches wie Travis Bickle in „Taxi Driver“. Doch Holappa hat sich kein Pornokino, sondern ein Arthouse-Kino ausgesucht und es läuft ein Zombiefilm von einem berühmten US-amerikanischen Filmemacher, der in den 1980er-Jahren ebenfalls mit seinem filmischen Minimalismus bekannt wurde.
Aktuell ist „Fallende Blätter“ durch den Krieg in der Ukraine. Immer wenn Ansa ihr analoges Radio anschaltet, ist die Berichterstattung über das Kriegsgeschehen zu hören. Meist dreht sie dann den Sender weg. Vielleicht würde der Film auch ohne diesen aktuellen Kontext funktionieren. Doch Kaurismäki sucht immer wieder das Politische im Privaten und im Alltag seiner Figuren. Es ist der private Raum, in den der Krieg immer wieder medial eindringt. „Dieser verdammte Krieg“, sagt Ansa relativ spät im Film zu Holappa. Ist Holappa deswegen so depressiv? Man erfährt es nicht. Möglich wäre es. Es ist eine Qualität dieses bemerkenswert humanistischen Films, dass er dies offenlässt.