Vorstellungen
Filmkritik
Im Kino gewesen und noch selten so geweint. Aber auch noch kaum je einen Film gesehen, der derart wahrhaftig zu sein scheint wie der zweite Spielfilm des Belgiers Lukas Dhont. Er handelt von einer Jungenfreundschaft und davon, wie diese allmählich Risse bekommt und schließlich in die Brüche geht. Ein heikles und tristes Thema, das der Regisseur weitgehend aus Sicht der beiden Knaben mit großer Einfühlungskraft zurückhaltend angeht. Der zweite Begriff, den es in Betracht zu ziehen gilt, ist Schicksalshaftigkeit. Nicht im Sinne eines Unglücks, das einem Menschen fatalerweise widerfährt, sondern dem eines Geworfen-Seins in eine Gesellschaft, in eine Zeit und in Lebensumstände, in denen ein anderer Weg nicht möglich ist oder nicht möglich erscheint.
Léo und Rémi heißen die beiden Freunde, der eine blond, der andere braunhaarig. Sie wohnen mit ihren Familien unweit voneinander in einer ländlichen Umgebung. Léo hat einen älteren Bruder. Seine Eltern betreiben eine Großgärtnerei, ziehen Blumen und Gemüse. Rémi ist Einzelkind. Seine Mutter arbeitet als Pflegerin auf der Kinderstation eines Krankenhauses in der nahen Kleinstadt. Gedreht wurde in der Gemeinde Wetteren in Ostflandern. Die beiden Väter kommen im Film auch vor, sind aber für die Jungen weniger präsent. Rémi und Léo sind nicht nur nebeneinander, sondern miteinander aufgewachsen und beste Freunde. Sie verstehen sich mehr oder weniger ohne Worte. Als man sie das erste Mal sieht, ist es Sommer und Ferienzeit. Sie vertreiben sich die Zeit im Wald in fantasievollem Kinderspiel: einer imaginierten Armee von Feinden, die sich ihnen nähert, und vor der sie unverhofft von ihrem felsigen Versteck im Wald in aufgeregter Atemlosigkeit über blühende Blumenfelder fliehen. Die Kamera, mitgezogen von stürmischer Lebensfreude, fliegt mit ihnen schwerelos mit.
Beieinander zuhause
Léo sagt seiner Mutter im Vorbeigehen, dass er bei Rémi übernachtet. Die Bemerkung der Mutter, ob er vielleicht auch mal wieder zuhause übernachte, ist eine leise neckische Zustimmung, die Léo mit heiterem Lachen quittiert. Die beiden Buben fühlen sich beieinander zuhause. Und wenn Rémi in der Aufregung vor einem Konzert nachts wachliegt, weil er darin auf der Oboe ein Solo zu spielen hat, und Léo ihm daraufhin so lange eine fantastische Geschichte um ein Entchen und eine Eidechse erzählt, bis er einschläft, ist das einer der zärtlichsten und unschuldigsten Beweise inniger Zuneigung, die das Kino kennt.
Diese innige Vertrautheit begleitet die beiden Knaben, als sie nach den großen Ferien gemeinsam zur Schule radeln. Sie wechseln in die Oberstufe und wurden nicht nur der gleichen Schule, sondern auch der gleichen Klasse zugeteilt; im Schulzimmer sitzen sie nebeneinander. In der Aufregung der ersten Pause, in der die Jugendlichen voneinander noch kaum mehr als die Namen kennen, werden Léo und Rémi von einer aufmerksamen Klassenkameradin neugierig gefragt, ob sie „zusammen“ seien. Während Léo schlagfertig antwortet, sie seien bloß Freunde und das insistierende Nachhaken des Mädchens mit der kurzen Bemerkung, sie seien „sowas wie Brüder“, abhakt, schweigt Rémi.
Doch das einmal Ausgesprochene bleibt im Raum hängen. Es setzt sich, nistet sich ein, bewirkt etwas. Bei Léos und Rémis Schulkameradinnen und -kameraden, die kurz vor oder am Anfang der Pubertät stehen und sich ihrem Alter entsprechend ziemlich unreflektiert und direkt verhalten. Aber auch bei Léo und Rémi, von denen der eine in seiner Verunsicherung instinktiv die Flucht in die Lüge und damit auch in die (Selbst-)Verleugnung antritt, derweil der andere sich zurückzieht und immer mehr verstummt, bis er in seiner verlassenen Hilflosigkeit und Verzweiflung für seinen besten Freund nur noch Tränen und Hiebe übrighat.
Das für normal Geltende
Lukas Dhont hat sich bereits in seinem Erstlingsfilm, dem um ein pubertierendes Transmädchen kreisenden Drama „Girl“, mit der Thematik queeren Heranwachsens auseinandergesetzt. In „Close“ beleuchtet er nun die Entwicklungsstufe davor: Den Moment, in dem Kindern in der Konfrontation mit der Gesellschaft bewusstwird, dass das, was in der familiären Umgebung als selbstverständlich und normal gilt, von außen anders wahrgenommen werden kann. Brutaler noch: Dass das Verhalten und die Eigenheit eines Menschen von der Gesellschaft, in der er sich bewegt, nicht unbedingt vorbehaltlos akzeptiert wird.
Dies, und das macht „Close“ so einmalig wie großartig, aber auch so delikat, noch bevor das Kind – oder im konkreten Fall die beiden Knaben – die Frage nach ihrer eigenen Geschlechtlichkeit und Genderidentität für sich selbst beantwortet haben. Dhont inszeniert das sehr behutsam und zurückgenommen. Mit einer Kamera, die weniger eine Handlung transponiert, als dass sie ein Geschehen beobachtet. Kleine Gesten. Ein winziges Wegrücken voneinander, ein kurzes Zögern, eine Hand, die sich zurückzieht, wenn man sie zu fassen versucht. Immer wieder kommt die Kamera von Frank van den Eeden den Körpern der beiden Protagonisten nahe. Nicht selten verharrt sie sekundenlang bewegungslos auf den noch kindlichen Gesichtern seiner beiden sensibel spielenden Hauptdarsteller, Eden Dambrine (Léo) und Gustav de Waele (Rémi).
Vor allem Dambrine trägt und prägt Dhonts Film durch seine starke Leinwandpräsenz. Dies vor allem auch im zweiten Teil des Films, in dem er alleine dasteht, und in welchem das auch kinematografisch heitere Sprudeln des ersten Teils einer beklemmenden Bedrücktheit und Stille gewichen ist. Nun ist er es, der schweigt. Der nicht reden kann über das, was geschehen ist, über seine Gefühle und seine Not.
Schlaglichter auf die langsame Heilung
Fast ein Jahr vergeht von der erschütternden Klimax des Films, bis gegen Ende das Leben auch für Léo wieder ein bisschen erträglich ist. So nah dran an den Protagonisten und zeitlich engmaschig Dhont im ersten Teil erzählt, so elliptisch wird er im zweiten. Er wirft sozusagen bloß kurze Schlaglichter auf die Zeit, die Wunden heilt, erreicht damit aber nicht mehr die Intensivität des Anfangs. Man kann das als störend empfinden. Dies umso mehr in diesem Film, der derart sorgfältig aufzeigt, wie einzelne Worte, kleine Sticheleien zwischen Kindern, eine gewisse Unachtsamkeit und sicher auch ein Unvermögen zu einem Desaster führen; der Prozess der langsamen Heilung wird allerdings nicht halb so sorgfältig geschildert.
Doch das hat mehr mit den Erwartungen des Zuschauers zu tun als mit dem Film an sich. Denn dass ein Mensch, nach dem Verlust des ihm am nächsten stehenden Menschen in eine Art Schockstarre fällt, aus der er erst allmählich wieder erwacht, ist realistisch. Und die wirklich traurigen Kinder sind auch im Kino nicht diejenigen, die laut heulend ihr Leid beklagen, sondern diejenigen, die wie Léo dafür keine Worte und keine Tränen finden.