- RegieGiuseppe Tornatore
- ProduktionsländerBelgien
- Dauer156 Minuten
- GenreDokumentarfilmMusikHistorie
- Cast
- AltersfreigabeFSK 12
- TMDb Rating8/10 (301) Stimmen
Vorstellungen
Filmkritik
„Ein enigmatischer Charakter“, „Bei allem Trubel ist er ganz bei sich selbst.“, „Wir reden über ein Genie.“, „Er ist die Ausnahme aller Regeln.“, „Der wichtigste Kompass, den man sich vorstellen kann.“ „Ein unglaubliches Talent im Verborgenen, das immer dann ausbricht, wenn er komponiert.“ „Er hat die Zukunft der Musik mitentschieden.“ „Mir ist kein größeres Phänomen begegnet wie Ennio Morricone.“ „Er ist eine Legende. Ein Eigenbrötler und Wahnsinniger, das ist sicher!“
Damit ist alles gesagt. Gleich zu Beginn lässt Giuseppe Tornatore mindestens zehn Personen mindestens zehn bedeutungsschwangere Sätze sagen, während der alte Mann, dem sie gelten, auf dem Boden seines großen, dunkel eingerichteten Wohnzimmers liegt und seine Gymnastikübungen macht. Behauptungen, die eigentlich kein Mensch auf sich zu vereinigen vermag. Sätze, die man halt so sagt, wenn man einer Person schmeicheln will. Belobigungen, die gesammelt werden, wenn man einen Dokumentarfilm über einen Freund und Prominenten macht. Die übliche Lobhudelei. Was soll man auch sonst über einen Menschen sagen, der in sechs Jahrzehnten mehr als 500 Filmmusiken komponiert und damit Millionen gerührt, geängstigt und gebannt hat?
Ein sanftes Crescendo
Doch dann erklingen wie zum Beweis aus dem Off ganz verhalten die Geigen. Wunderbar ruhig und langsam, aber stetig anwachsend und mit den restlichen Streichern ein Thema formulierend, das wohlig bekannt erscheint und doch fremd ist. Während auf der Leinwand der alte Mann im Feinstrickpullover inzwischen aufgestanden ist und mit sanften Dirigierbewegungen ein imaginäres Orchester animiert, das immer kompakter in ein sanftes Crescendo gleiten soll, beginnt man zu ahnen, was die Stimmen gemeint haben könnten. Der Film ist keine fünf Minuten alt und könnte eigentlich jetzt schon zu Ende sein. Alles ist gesagt; zwei Minuten aus „Das Erbe der Ferramonti“ von Mauro Bolognini sind erklungen. Doch das ist erst der Anfang.
Er mache nur mit, wenn Giuseppe Tornatore die Regie übernimmt, soll Ennio Morricone gesagt haben. Man glaubt ihm diese Einlassung, auch wenn sie von Tornatore selbst kolportiert wird. Beide kennen sich lange und haben zwischen 1988 und 2016 zehn Filme zusammen gemacht – worunter „Cinema Paradiso“ sicherlich der eindrucksvollste ist. Für ein abendfüllendes Porträt bedarf es langer Gespräche, die man am besten in Vertrautheit führt, auch wenn sie später für ein Millionenpublikum gedacht sind.
Man merkt Tornatore ein wenig an, wenn es in „Ennio Morricone – Der Maestro“ in die Rezitative geht, also wenn Informationen über Leben und Werk des Komponisten zusammengetragen werden. Das sind zwar notwendige, auch nicht sonderlich geliebte Passagen in einem Dokumentarfilm, der am liebsten nur all jene Menschen dabei zeigen möchte, wie sie ihre Passion „Morricone“ mit dem Publikum teilen. Doch auch das scheinbare „business as usual“ besitzt hier über die biografischen Angaben hinaus einen Erkenntniswert. So bekommt man aus Morricones Anfangsphase als Arrangeur beim italienischen Fernsehen viele vergessene Schlager aus den 1960er-Jahren präsentiert oder erfährt nebenbei, was das Unverwechselbare seiner Musik ausmacht und wie es sich entwickelt hat.
Wurzeln in der Neuen Musik
Weil Morricone das Komponieren eingängiger Melodien als langweilig empfand, arbeitete er Disharmonien in seine Kompositionen mit ein. Seine Wurzeln in der Neuen Musik, die er unter anderem in Darmstadt am Internationalen Musikinstitut vertiefte, ließen ihn die Scheu davor verlieren, Schlager mit schrägen Tönen und exotischen Instrumenten zu komponieren. Das brachte ihm dann bei Publikum und Kritik viel Aufmerksamkeit, machte seine Songs unverwechselbar und führte auch dazu, dass Morricones Scores für Italowestern mit viel Aberwitz angefüllt sind.
Morricone war als ernsthafter Musiker davon nicht immer begeistert und empfindet sein „Gejammere“ in „Für eine Handvoll Dollar“ aus späterer Sicht nicht mehr als großen Wurf. Doch es ebnete ihm über Italien hinaus den Weg nach Hollywood und in die Unsterblichkeit.
Morricone verrät gerne, was er gerade denkt. Das führt hier immer dann zu besonderen Situationen, wenn er die Morricone-Favoriten jener, mit denen er zusammenarbeitet, auch selbst einmal als ganz passabel erachtet. Man kann im Kinosaal förmlich die Erleichterung spüren, wenn Morricone von einer eigenen genialen Idee, mit drei Tönen einen Klassiker zu produzieren, auch in der Retrospektive „ganz angetan“ zu sein scheint.
Trotz seiner zweieinhalb Stunden ist „Ennio Morricone – Der Maestro“ zu keiner Zeit langatmig. Das mag daran liegen, dass immer noch ein weiterer Evergreen um die Ecke kommt. Es liegt aber auch an der Meisterschaft von Guiseppe Tornatore, Fakten und Unterhaltung zu einem leichtfüßigen, ebenso gewitzten wie spannenden Bogen zusammenzufügen.
Ein furioses Finale
Tornatore ist aber auch ein Meister, wenn es darum geht, Emotionen zu steuern. So arbeitet er sich Schritt für Schritt zu seinem persönlichen kinematischen Höhepunkt vor, in dem es um die Musik geht, die Morricone eigentlich nicht komponieren wollte, weil er die Bilder zu „Mission“ von Roland Joffé so überwältigend empfand. Irgendwann kam ihm dann aber doch eine Idee, oder drei – die als Haupthemen im furiosen Finale zu einem großen empathischen Requiem für Oboe, Orchester und Chor erklingen. Nach gut zwei Stunden entsteht bei Tornatore mit dieser Fusion und einer atemberaubenden Schnittfolge aus diversen Konzertmitschnitten der Höhepunkt des Films, gleichsam auch ein denkwürdiger Augenblick in der Dokumentarfilmkunst.
Dabei hat Morricone für diesen Opus Magnum 1987 nicht einmal einen „Oscar“ bekommen. Das ist einer der großen Skandale in der Academy-Geschichte, die „Ennio Morricone – Der Maestro“ geschickt konstatiert. Morricones Karriere war damit aber noch lang nicht vorbei. Im Gegenteil. Einen Ehren-„Oscar“ fürs Lebenswerk gab es 2007 und 2016 dann auch noch einen für die Musik von „The Hateful 8“.
Man ist immer wieder erstaunt, wen Tornatore noch zu einem der vielen bedeutungsschwangeren Lob-Sätze motivieren konnte. Das Wunderbare an „Ennio Morricone– Der Maestro“ ist dabei, dass man sie am Ende alle glaubt!