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Filmkritik
Ganz klassisch wie im Märchen beginnt „Encanto“. Das Licht ist behaglich gedimmt und die Stimme von Oma Alma raunt geheimnisvoll aus dem Off und berichtet von einer wundersamen Kerze. In größter Not hat sie eine zauberhafte Macht versprüht und fortan alle Nachkommen der Madrigals mit einer wunderbar-übermenschlichen Gabe beseelt.
Generationen später leben die Madrigals im kleinen kolumbianischen Bergdörfchen Encanto und beglücken mit ihrer Magie die ganze Gemeinschaft. Almas Tochter Julieta lässt mit ihren Speisen selbst Knochenbrüche heilen, ihre Schwester Pepa macht das Wetter, unter den Händen ihrer Nichte Isabela sprießen Blumen, deren Schwester Luisa ist der stärkste Mensch der Welt und Kusine Dolores ist eine allwissende Klatschtante.
Doch da ist auch noch Mirabel, deren Initiation als erste in der Familie nicht richtig geklappt zu haben scheint. Die Taufe im Schein der Zauberkerze hatte für sie keine Tür geöffnet. Nichtsdestotrotz ist die junge Mirabel der Sonnenschein der Familie. Mitreißend fröhlich, wenn auch ein wenig chaotisch und unaufgeräumt, ist sie die Lieblings-Kusine von Antonio, dem schüchternen jüngsten Spross der Familie, der kurz davorsteht, seine persönliche Zauberkraft zu bekommen.
Ein schwarzes Schaf und eine Bedrohung für die magische Kerze
Es klingt ganz nach finaler Idylle und Märchenende. Doch Jared Bush und Charise Castro Smith, die beiden Drehbuchautoren des 60. abendfüllenden Trickfilms des Disney-Konzerns, haben nach dem märchenhaften Intro und der ein oder anderen unbeschwert-poppigen Musicalnummer noch ein bisschen Drama in petto. Es gilt zu klären, ob Mirabel außer guter Laune nicht doch noch etwas Substantielles zum Wohle der Familie beizutragen hat, und es gibt auch noch ein dunkles Geheimnis in Form von Onkel Bruno, dem „schwarzen Schaf“, über den im Viergenerationen-Haus der Madrigals tunlichst nicht gesprochen wird. Auch von außen droht Ungemach: Sind es nur nichtige Visionen, die Mirabel dazu veranlassen, ein Schwinden der Kraft der „Magischen Kerze“ zu prophezeien? Oder ist ihr eigenes Schicksal gar mit dem von Bruno verbunden, dem von Alma Schuld am drohenden Auseinanderbrechen der engen Familienbande gegeben wird?
Bevor es aber ein wenig düster wird und die Risse im lebenden Zauberhaus der Madrigals sichtbarer werden, sieht „Encanto“ erst einmal einen freudigen Rausch der Farben und positiven Emotionen vor. Als hätten sie allzu tief in den Klischeeschubladen südamerikanischer Soap Operas gekramt, gibt es in „Encanto“ keinerlei Zwischentöne. Angefangen bei der matriarchal regierenden Oma Alma an der Spitze der Familienstruktur, reihen sich mal patente, mal zickige, mal divenhafte, mal launische, mal ungezwungene, sich aber immer grenzenlos neugierig am Klatsch labende kolumbianische Frauen um den immer übervollen Esszimmertisch. Eigentlich eine kaum zu harmonisierende Truppe, wäre da nicht die unumstößliche Familienehre als höchstes und bindendes Gut sowie die mitreißende Mirabel als ausgleichendes Element der extremen Temperamente.
Audiovisuell überschütten die Regisseure Byron Howard und Jared Bush diesen kaum zu bändigenden Gefühlsvulkan mit den denkbar sattesten Farben sowie der ganzen Rhythmuspalette lateinamerikanischer Liedkultur. Ersteres ist für den wohlig-heimeligen, mithin märchenhaften Anstrich von „Encanto“ verantwortlich. Die Besonderheit in der Farbdramaturgie ist die Grundierungsfarbe, nämlich: Schwarz. Schon Kultmaler Bob Ross hat in seinen Fernsehseminaren „Joy of Painting“ dem geneigten Hobbymaler staunend vor Augen geführt, dass auf einer schwarz grundierten Leinwand viel farbenprächtigere und leuchtendere Bilder entstehen können als auf der üblichen weißen. Genau dieses Phänomen sorgt auch bei „Encanto“ dafür, dass die ohnehin keineswegs dezent im Computer angemischten Pink-, Violett-, Rot- und Rosttöne den Zuschauer geradezu blenden.
Die Popsongs sprengen den Dorf-Marktplatz
Dem fantastischen Farbsetting steht eine geerdete, höchst moderne Tonspur gegenüber. „Encanto“ steht ganz in der Tradition der musik- und gesanglastigen Trickfilme des Hauses. Doch während in „Der Glöckner von Notre Dame“, „Die Schöne und das Biest“ oder „Der König der Löwen“ die Gesangsnummern orchestral und harmonisch das Flair des jeweiligen märchenhaften Sujets unterstützten, scheinen die lateinamerikanischen Popsongs aus „Encanto“ eher in eine moderne Großstadt-Tanzschule zu passen als auf den Marktplatz eines kleinen kolumbianischen Dorfes. Diesen Clash der Kulturen muss man erst einmal verdauen, zumal sich der Film in der Originalfassung nur bei einer der acht Musical-Nummern getraut hat, die Protagonisten in spanischer Sprache singen zu lassen, was in der Inkonsequenz dann doch ein wenig befremdet.
„Encanto“ hätte leicht ein nur schwer erträglicher Kitschfilm werden können doch zum Glück gibt es die schwarzen Schafe der Familie. Das Team Mirabel/Bruno sorgt nicht nur für die überzeugendsten Songs, sondern auch für die Seele des Films, die ein wenig rauer ist, als die in toto allzu glatte Oberfläche vermuten lässt. Zu einem flammenden Lobgesang auf das Individuum und einer Originaliät, wie sie Disneys Tochterfirma Pixar an den tag legt, konnten sich die Verantwortlichen des Films doch nicht ganz hinreißen lassen. Da sind die Hymnen auf die (lateinamerikanische) Großfamilie dann doch zu stark. Auch die hier permanent zelebrierte Wichtigkeit des ausgleichenden Charakters von Mirabel wird am Ende nicht, wie zu vermuten wäre, als verborgene, aber größte aller „zauberhaften Gaben“ der Familie gepriesen. Immerhin bescheren die beiden Underdogs dem Film aber wahrlich wunderbare Momente. So versöhnt kann man auch das einmal mehr dick aufgetragene Finale als das goutieren, was es ist: ein „Encanto de Ojos“, ein wahrer Augenschmaus.