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Filmkritik
„There is something more“, da steckt mehr dahinter, vermutet Emily Brontës Schwester Charlotte. Noch auf dem Sterbebett der jüngeren Schwester will sie wissen, wie diese nur „Wuthering Heights“ schreiben konnte, dieses „hässliche und vulgäre“ Buch.
Das Pfarrhaus in Yorkshire, in dem Charlotte, Branwell, Emily und Anne Brontë in den 1820er-Jahren aufwuchsen und teilweise bis zu ihrem frühen Tod lebten – alt wurden sie alle nicht, Charlotte hatte mit 39 noch das längste Dasein auf Erden –, ist ein Mythos. Schon in Kindertagen erfanden die vier Geschwister imaginäre Welten, die sie in kurzen Geschichten zu Papier brachten. Aus der Jugend- und Erwachsenenzeit existieren von allen Veröffentlichungen; Charlotte, Emily und Anne schrieben unter männlichem Pseudonym.
Nach dem frühen Tod von Emily übernahm Charlotte die Deutungshoheit und wurde zur Biografin der Brontës. Was sie berichtete, wurde weitergegeben und irgendwann auch kritisch gelesen; zu den Erzählungen kamen Gegenerzählungen hinzu. Gewichtungen veränderten sich.
Eine frei fabulierte Fantasie
Zu filmischen Biografien wie „Devotion“ (1946) von Curtis Bernhardt (mit Ida Lupino als Emily) und André Téchinés „Die Schwestern Brontë“ (1979) kommt nun mit „Emily“ von Frances O’Connor eine weitere Interpretation. Sie versteht sich explizit nicht als Rekonstruktion tatsächlicher oder wahrscheinlicher Ereignisse, sondern als frei fabulierende Antwort auf Charlottes anfängliche Frage. Anders als zahlreiche Produktionen der jüngeren Zeit, die sich das Viktorianische Zeitalter nach heutigen Ansprüchen, Sensibilitäten und Trends zurechtbiegen, bleibt „Emily“ historisch aber weitgehend „im Text“.
Das gegenwärtigste Element ist die Schauspielerin Emma Mackey als Emily. Mit ihrem modernen, auch etwas modelhaften Gesicht sticht sie aus jedem Bild heraus. Wann immer ihr Kopf in einem Häubchen steckt oder von einer Schleife eingefasst wird, sieht es verkehrt aus, irgendwie zu expressiv, zu kostümiert. Was sicher gewollt ist.
Frances O’Connor, die als Schauspielerin selbst historienfilmerprobt ist, entwirft das „House of Brontë“ als Nährboden für kollaborative Arbeit, Liebe, Seelenverwandtschaft, Eifersucht und Rivalität. Emily ist die Außenseiterin. Im Dorf nennt man die zwanghaft schüchterne und störrische Frau, die nur beim Ausdenken von Geschichten aufblüht, „the strange one“. Bei Charlotte, die im Film als dauerpatronisierende und verschnupfte Gouvernante schlecht wegkommt, weckt Emily nur Fremdscham. Auch die Erwartung des Vaters, der älteren Schwester beruflich zu folgen, muss Emily enttäuschen. Einen Verbündeten findet sie allein in Branwill, ihrem haltlosen und zügellosen Bruder, der bald dem Opium verfällt.
Die Bilder strotzen vor Kraft
Anders als bei Téchiné, der das Leben der Brontë-Geschwister in klaustrophobischer Enge zeichnet, kränklich, kalt-feucht und freudlos, kommt „Emily“ vitalistisch daher. Die Bilder strotzen vor Kraft und bei starkem Regen droht nicht gleich der Tod durch Lungenentzündung: im Gegenteil, pitschnass freut man sich des Lebens. Auch steckt hinter der immer wieder behaupteten „Merkwürdigkeit“ der Titelfigur weniger eine neurotische Störung als gesundes emanzipiertes Denken.
Lustvoll mischt O’Connor die wilde, übersinnliche Energie des Gothic, die in „Wuthering Heights“ lodert, in Emilys Leben hinein. Einmal spielen die Geschwister ein Spiel. Unter einer weißen Maske, die reihum zirkuliert, soll jeder die Identität einer anderen Person annehmen, die es zu erraten gilt. Emily schlüpft in die Rolle der verstorbenen Mutter und wendet sich dabei auf eine so wahrhaftige Weise an jedes ihrer Kinder, dass sie tatsächlich leibhaftig zu werden scheint – bis sie das Jenseits wieder zurückruft.
Eine angedichtete Liebe
Emilys Liebesgeschichte mit dem Vikar und Hauslehrer William Weightman ist wohl der stärkste Einwand gegen den Film. Dass der Schriftstellerin eine Liebe angedichtet wird, um ihrer literarischen Schaffenskraft ein Motiv zu geben, scheint auf den ersten Blick wie ein zu oft reproduziertes Klischee. Tatsächlich aber wirkt die Geschichte in die verschiedensten Richtungen: Herzschmerz, Weightmans Zerrissenheit zwischen Gottesfurcht und Begehren, seine regelrechte Panik vor Emilys Kreativität. Vor allem aber geht es darum, die Leidenschaft von „Wuthering Heights“ in Emilys von Regeln und Einschränkungen bestimmten Alltag hineinzutragen. Der Schreibprozess, von dem man im Film so gut wie nichts sieht, findet im Leben statt.