Wir befinden uns im China der 1970er-Jahre: einem China der Kulturrevolution. Inmitten einer Wüstenlandschaft begegnen sich zwei Menschen, die fortan miteinander verbunden sind. Ein Gefangener und ein Waisenkind. Sie kennen sich nicht, aber ihre Wege schienen sich schicksalhaft zu kreuzen. Der Gefangene ist aus einem Arbeitslager geflohen und riskiert eine längere Haftstrafe, ist aber bereit, die Wüste und ihre sengende Hitze zu durchqueren, um einen Blick auf ein ganz bestimmtes Filmmaterial zu werfen.
- RegieYimou Zhang
- Dauer104 Minuten
- GenreDrama
- Cast
Vorstellungen
Leider gibt es keine Kinos.
Filmkritik
Verfolgungsjagden und Faustkämpfe um begehrte Objekte haben im Kino eigentlich eher wenig mit dem eigenen Medium zu tun. In Zhang Yimous „Eine Sekunde“ aber entspinnt sich ausgerechnet um eine Filmrolle ein anhaltender Zweikampf. Ihr Wert bemisst sich für die Beteiligten dabei in grundsätzlich verschiedenen Einheiten. Zhang geht es um eine einzige Sekunde aus einer Wochenschau, in der seine Tochter zu sehen sein soll. Die struppige Vagabundin Liu dagegen ist hinter dem reinen Material her. 12,5 Meter Zelluloid würden ihr für einen neuen Lampenschirm ausreichen. Den braucht sie, damit sich ihr kleiner Bruder beim Lernen nicht die Augen verdirbt.
Das Hin und Her bis zur Veröffentlichung
Das ewige Hin und Her, das der Aufführung der „Wochenschau Nr. 22“ vorausgeht, spiegelt in gewisse Weise auch die Veröffentlichungsgeschichte von „Eine Sekunde“ wider. 2019 sollte der Film im Wettbewerb der Berlinale laufen, bevor er kurzfristig von offiziellen Stellen „aufgrund von technischen Problemen“ zurückgezogen wurde. Ein Jahr später war er in einer umgearbeiteten Fassung als Eröffnungsfilm im staatsnahen Wettbewerb des Filmfestivals in Xiamen angekündigt und wurde erneut aus dem Programm genommen – um zwei Tage später offiziell in den Kinos zu starten.
Die Umstände klingen komplizierter, als es das vorliegende Werk vermuten lässt. Auch wenn Zhang Yimou vermutlich einige Stellen entschärft hat, wird es auch vorher kaum ausgesprochen ideologiekritisch gewesen sein. Sicher zeigt sich die dargestellte Gesellschaft von ein paar unschönen Seiten – Gehorsam und Obrigkeitshörigkeit wiegen mehr als Solidarität –, doch der Tonfall des Films ist eher melancholisch und herzerwärmend. Im Ringen um die Filmrolle entwickelt sich zwischen Zhang und dem Waisenmädchen Liu schließlich am Ende doch so etwas wie eine Ersatz-Vater-Tochter-Beziehung.
Das heroische Sujet des analogen Kinos
Yimou, der zuletzt nicht nur mit Genrefilmen wie „Hero“ und „The Great Wall“, sondern auch als Regisseur von Olympiafeiern in Erscheinung trat, widmet sich in „Eine Sekunde“ einem vergleichsweise randständigen, für Cinephile aber dann doch auch wieder heroischen Sujet: dem analogen Kino. Yimou zelebriert es in seinen verschiedensten materiellen wie ideellen Beschaffenheiten: als kollektives Ereignis, das Gefühle evoziert und Zusammenhalt stiftet, als eine Arbeit, die Verantwortung, Sensibilität und technisches Geschick verlangt, als ein Medium, das einen zeitlichen Moment zu verewigen vermag.
Hintergrund der Geschichte ist wie so oft in Yimous Filmen die Zeit der chinesischen Kulturrevolution. Zhangs Flucht aus einem Arbeitslager im Nordwesten Chinas hat ein ungewöhnliches Ziel: den Kinosaal. Als er spät abends halb verdurstet vor dem Lichtspielhaus ankommt, werden die Filmrollen des agitatorischen Lehrstücks „Heroische Söhne und Töchter“ gerade in den Satteltaschen eines Motorrads verstaut, um ins nächste Dorfkino transportiert zu werden. Bis sie den Vorführraum erreichen, gerät eine der Rollen abwechselnd in die Hände von Liu und Zhang, während die Filmrolle der Wochenschau beim Transport mit einem Esel-Karren stark beschädigt ankommt. Der vor Berufsethos und Pflichtbewusstsein nur so strotzende Vorführer „Movie Man“ ist über einen solch nachlässigen Umgang mit dem Zelluloid schwer empört. Also trommelt er das versammelte Publikum zu einer kollektiven Filmrettung zusammen.
Ein Dorf rettet den Film
Der schönste Teil von „Eine Sekunde“ gilt sämtlichen Schritten der Filmrestauration, freilich mit den zu Beginn der 1970er-Jahre im dörflichen China vorhandenen Mitteln: Vom behutsamen Zusammentragen des Materials mit Essstäbchen, dem Transport auf gespannten Bettlaken, dem Aufhängen und Waschen und Trocknen mit Fächern – „eine leichte Brise, federleicht, aus dem Handgelenk“ – bis hin zum Einlegen der Filmrolle.
Später glänzt Movie Man, der bei aller Empathie nicht davor zurückschreckt, Zhang an den Sicherheitsdienst zu verraten, sogar mit einem Meisterstück der Vorführkunst. Aus der entscheidenden Filmsekunde baut er eine Schleife. So kann der Vater den Augenblick, in dem seine 14-jährige Tochter erscheint, hundert Mal hintereinander sehen. Die Sentimentalität des Moments hat jedoch einen bitteren Geschmack: Das Bild zeigt, wie das Mädchen sich in einem Kornspeicher mit einem Mehlsack abmüht.