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Filmkritik
Es beginnt 1937 mit einem jungen Mann, der als Spross einer betuchten Familie in einem Kapuzinerkloster in Crest Entsagung übt. Sieben Jahre weilt er schon unter den Mönchen, als ihm der Prior mitteilt, dass er zu oft krank und dem entbehrungsreichen Leben im Kloster nicht gewachsen sei. Seine Berufung, meint der Prior, läge anderswo, vielleicht als Priester in einer Kirchengemeinde in der Umgebung von Paris.
137 Minuten später endet der Film von Frédéric Tellier in den frühen 2020er-Jahre mit Straßenimpressionen von Bettlern und Obdachlosen. Dazwischen entfaltet sich auf der Leinwand die Vita des aus dem Kloster verwiesenen Mannes. Sein Name ist Henri Antoine Grouès. Er wird am 5. August 1912 als Sohn eines Seidenfabrikanten in Lyon geboren und stirbt am 22. Januar 2007 in Paris. Bekannt wurde er unter dem Namen Abbé Pierre, einem Pseudonym aus der Zeit des französischen Widerstands im Zweiten Weltkriegs.
Er habe nicht eines, sondern viele Leben gelebt, sagt Abbé Pierre (Benjamin Lavernhe) gegen Ende des Films in einer halluzinierten Begegnung mit seinem Jugendfreund François Garbit. Dabei sei er keinen fixen Plan, sondern dem gefolgt, was das Leben ihm zu tun gebot. Es ist ein Weg voller abrupter Wendungen und (Ver-)Wandlungen.
Über den Tod hinaus verbunden
Dem Verweis aus dem Kloster folgt eine Phase der Suche, des Zweifelns und Zögerns. Dabei begegnet Grouès auch seinem Jugendfreund wieder. Die beiden kennen sich aus ihrer Internatszeit in Lyon und sind einander eng vertraut. François träumt als Sohn eines Generals schon als Jugendlicher von einer Militärkarriere. Henri aber schätzt an seinem Freund dessen Besonnenheit und Sanftmut. Garbit stirbt 1941 im Alter von 31 Jahren an Typhus. In dem Film bleibt Grouès seinem Freund über dessen Tod hinaus verbunden und steht mit ihm weiterhin im Dialog. Obwohl sich die Erzählung an Fakten orientiert, gibt es eine zusätzliche, mystisch angehauchte, surreale Ebene.
Henri Antoine Grouès wird im August 1938 zum Priester geweiht und im Dezember 1939 als Unteroffizier in den Kriegsdienst berufen. Er führt die ihm unterstellten Soldaten Richtung Front, bricht in Folge einer chronischen Brustfellentzündung aber schon vor deren Erreichen zusammen und wird nach wenigen Monaten aus dem Dienst entlassen. Ab 1940 arbeitet Grouès als Seelsorger und Arme-Leute-Pfarrer. Um 1942/43 schließt er sich der Résistance an und hilft, jüdische Menschen und politisch Verfolgte über die Grenze in die Schweiz zu schmuggeln.
In dieser Zeit begegnet er Lucie Coutaz (1899-1982). Sie stammt aus der Unterschicht, hat dank einer Wallfahrt nach Lourdes in jungen Jahren eine schwere Krankheit überstanden und engagiert sich als Erwachsene für Bedürftige. Als sie auf Grouès trifft, trägt sie die Kleidung einer Nonne und verpasst ihm den Decknamen Abbé Pierre; den Rest ihres Lebens verbringt sie an Grouès’ Seite.
Gegen Armut und Obdachlosigkeit
Es sind das Mitleid und die Fürsorge für die Ärmsten der Gesellschaft, die beiden zusammenschweißen. Während Grouès, der nach dem Krieg in die französische Nationalversammlung berufen wird und als Politiker Karriere macht, seinen Kampf gegen Armut und Obdachlosigkeit in der Öffentlichkeit führt, wirkt Coutaz im Hintergrund. Sie unterstützt Grouès und hilft mit, als er 1949 Emmaüs ins Leben ruft: eine Organisation zur Bekämpfung von Armut und Obdachlosigkeit in Paris und Umgebung. Die Gemeinschaft setzt auf Eigenständigkeit und baut auf das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Sie bietet Arbeits- und Wohnmöglichkeit und wird ein Erfolg. 1969 weitet Emmaus das Tätigkeitsfeld international aus; heute ist die Organisation in 39 Ländern aktiv.
Ein Film über eine so charismatische Persönlichkeit, die sich unter Verzicht auf eigene Privilegien für das Wohlergehen der Ärmsten engagiert, ist ein delikates Unterfangen. Zum einen, weil sich der Film an den kollektiven Erinnerungen messen lassen muss. Zum anderen, weil ein Biopic das Leben einer Person nie ganz darstellen kann. Frédéric Tellier war sich dessen durchaus bewusst. Das Drehbuch hat er zusammen mit Olivier Gorce geschrieben und bei der Recherche viel Mühe darauf verwendet, auch etwas über das Privat- und Innenleben des Abbés zu erfahren, über seine Zweifel und Ängste, seine Überzeugungen und die Arbeits- und Lebensweise. Zu einer wichtigen Quelle wurde dabei Laurent Desmard, der 15 Jahren lang Abbé Pierres Privatsekretär war und seit 2004 der Stiftung Abbé-Pierre vorsteht. Viele Details des Films speisen sich aus dieser Quelle.
Zweifel begleiten sein Leben
Dennoch entkommt Tellier nicht allen Widersprüchen. Durch den Versuch, die Erzählung um Abbé Pierre um die eines gesundheitlich angeschlagenen Mannes und Zweiflers zu ergänzen, der sich sogar noch im Angesicht des nahenden Todes fragt, ob er genug und vor allem das Richtige getan habe, trägt der Film sogar zu dieser Legendenbildung noch bei. Denn als Heiliger und Held wird nicht der gerühmt, der sein Ziel mühelos erreicht, sondern der dafür sein Leben lang kämpft.
Tellier skizziert das Leben von Abbé Pierre im chronologisch weiten Bogen und hebt entscheidende Momente hervor. Neben dem Verweis aus dem Kloster sind das der kurze Einsatz beim Militär, die Tätigkeit im Widerstand, die Gründung von Emmaus und die ersten, schwierigen Jahre des Aufbaus. Danach folgen, etwas gestraffter, Abbé Pierres Bemühungen um die Erweiterung von Emmaus, die ihn immer mehr auch zu einem international bekannten „Medienstar“ werden lassen, sowie die späten Jahre, die ihn nach einem psychischen Zusammenbruch zum Nachdenken bringen.
Die einzelnen Episoden sind in sich stimmig inszeniert und in der historischen Darstellung sorgfältig gestaltet. Sie liegen zeitlich allerdings weit auseinander und verknüpfen sich inhaltlich bisweilen nur wenig, was der Erzählung eine gewisse Sprunghaftigkeit verleiht. Getragen und zusammengehalten wird der Film von Benjamin Lavernhe, der Henri Antoine Grouès eindringlich verkörpert. Das liegt aber nicht nur an Lavernhes schauspielerischem Können, sondern ist auch das Verdienst der Maske, die die Spuren eines langen Lebens unaufdringlich einzeichnet. In der Rolle von Lucie Coutaz ist Emmanuelle Bercot zu sehen.
Appell für eine bessere Gesellschaft
Informativ und in einzelnen Momenten auch sehr überzeugend versucht „Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“, den Zuschauern ins Gewissen zu reden. Er appelliert für eine bessere Gesellschaft und erklärt, dass der Kampf gegen Ungerechtigkeit und Armut nie gewonnen werden kann, aber gleichwohl geführt werden muss. Das ist zwar nicht falsch, verleiht dem Film aber den unangenehmen Beiklang eines moralisierenden Werbefilms.