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Filmkritik
Rom, ein ruhiges Außenquartier, später Abend. Die Kamera richtet sich auf ein dreigeschossiges Haus. Eine hochschwangere jüngere Frau tritt vor die Tür. Sie zieht einen kleinen Rollkoffer hinter sich her und macht sich auf die Suche nach einem Taxi. An der Kreuzung weiter vorn sind vereinzelte Passanten unterwegs. Unverhofft durchbricht das Quietschen von Reifen die nächtliche Ruhe. Man hört einen überdrehten Motor und sieht ein Auto in hohem Tempo in die Straße einbiegen. Es erfasst auf dem Fußgängerweg eine Frau, rast in ungebremster Fahrt schlingernd auf das Haus zu, durchbricht in dessen Erdgeschoss eine Glasfassade und bleibt schließlich in einem Atelier liegen.
Nach ein paar Schrecksekunden kommt Leben in die Szene. Die Bewohner des Hauses schauen aus den Fenstern, stürzen vor die Tür. Dann sind Polizei und Ambulanz da. Die Überfahrene wird zugedeckt auf eine Bahre gelegt, der Fahrer des Autos, kaum dem Teenageralter entwachsen, verletzt in die Ambulanz geladen. Seine Mutter steigt zu ihm und fährt mit ins Krankenhaus. Das junge Ehepaar, in dessen Wohnung das Auto nun steht, vertraut seine kleine Tochter über die Nacht dem benachbarten Ehepaar an. Die Schwangere bringt zu später Stunde im Spital eine Tochter zur Welt. Ihr Mann ist während der Geburt, berufsbedingt wie fast immer, abwesend.
Von dieser einen Nacht im Frühling des Jahres 2010 und der fulminant inszenierten ersten Szene aus, in der sich für einen kurzen Moment fast alle Bewohner des Hauses gleichzeitig im Bild befinden, blättert Nanni Moretti die Personenkonstellationen von „Drei Etagen“ auf und spinnt das Geschehen weiter.
Den Ansprüchen des Vaters nicht genügend
In der obersten Etage wohnen der Unfallverursacher Andrea, seine Mutter Dora und sein Vater Vittorio. Dora ist Anwältin, Vittorio Richter, den Nanni Moretti selbst gespielt. Vittorio ist ein verschlossener Charakter. Ein Mann der Prinzipien, der die hehren Regeln, die er in seinem Beruf vertritt, auch auf sich und seine Umgebung anwendet. Sie gelten seit frühester Kindheit auch für seinen Sohn. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ist dementsprechend angespannt. Schon als Kind konnte Andrea den Ansprüchen Vittorios nicht genügen. Er fühlt sich genau als der Versager, als den Vittorio ihn sieht. Der von Andrea in betrunkenem Zustand verursachte Unfall, bei dem die Fußgängerin stirbt, macht alles noch schlimmer. Dora (Margherita Buy) steht zwischen den beiden. Sie versucht Andrea eine gute Mutter und Vittorio eine ebenso gute Gattin zu sein – und zwischen den beiden zu vermitteln. Irgendwann aber stellt Vittorio sie vor die Wahl. Einige Jahre später bricht Andrea die Beziehung zu seinen Eltern ab.
In der zweiten Etage lebt Monica. Sie kehrt einige Tage nach dem Unfall mit ihrer neugeborenen Tochter Beatrice in ihre Wohnung zurück. Sie ist von der Mutterschaft und dem Alleinsein mit dem Baby anfänglich überfordert, weshalb sie Dora fürs erste Bad des Kindes um Hilfe bittet. Manchmal sieht Monica in ihrer Wohnung einen Raben und befürchtet danach, wie ihre Mutter an einer Psychose zu leiden. Von ihrem Mann Giorgio wird sie regelmäßig angerufen. Giorgio ist Bauleiter. Er arbeitet im Ausland und ist oft wochenlang abwesend; als Beatrice eingeschult wird, erzählt sie ihrer Mutter, dass die Leute des Quartiers von ihrer Mutter nur als von „der Witwe“ reden.
In der ersten Etage, eigentlich im Hochparterre, befindet sich neben der Wohnung von Lucio, Sara und Francesca auch die von Giovanna und Renato. Lucio und Sara sind beide berufstätig, ihre Tochter Francesca ist sieben. Giovanna und Renato sind alt; bei Renato zeigen sich erste Anzeichen einer Demenz. Ihre Tochter lebt in Paris, ihre Enkelin Charlotte kommt im Sommer jeweils für ein paar Wochen zu Besuch. Es hat sich eingependelt, dass Francesca oft bei Giovanna und Renato ist. Sie mag die beiden, fühlt sich bei ihnen wohl und weiß auch mit Renatos Demenz umzugehen.
Das gutnachbarschaftliche Verhältnis zerbricht
Eines Tages unternehmen Renato und Francesca einen kurzen Ausflug zu einer Eisdiele, nach dem sie beide nicht mehr nach Haus finden. Lucio findet sie nach einigen Stunden in einem Park. Die Polizei führt Befragungen durch, Ärzte untersuchen das Kind, die Psychologin wird auch eingeschaltet. Es sei weiter nichts geschehen, lautet das Fazit, Francesca habe keinen Schaden gelitten. Lucio aber befürchtet Schlimmes. Er versteigt sich in seine fixe Idee. Sein Verhalten wird unberechenbar; gegenüber Renato wird er ausfällig und mit Charlotte lässt er sich auf einen riesigen Fehler ein, an dem seine Ehe und das einst gutnachbarschaftliche Verhältnis zerbrechen.
„Drei Etagen“ ist der erste Film, den Moretti nicht nach einer eigenen Geschichte drehte. Dem Film liegt der Roman „Über uns“ von Eshkol Nevo zugrunde, der in Tel Aviv spielt. Moretti verlegt den Handlungsort nach Rom und lässt den Film auch nicht auf dem Höhepunkt der verschiedenen Krisen enden, sondern findet gegen Ende leise-tröstlich ins Hoffnungsvolle zurück. Die Handlung ist in drei Episoden unterteilt, die jeweils fünf Jahre auseinanderliegen. Die einzelnen Geschichten sind lose ineinander verflochten, würden aber auch für sich alleine funktionieren. Was die Geschichten und Schicksale der Personen verbindet, sind Ort und Gleichzeitigkeit: das Haus, in dem fast alle Protagonisten über die Jahre hinweg wohnen und in dem sich ihre Wege (notgedrungen) ab und zu kreuzen.
Mit diesem Konzept erinnert „Drei Etagen“ unmittelbar an Fernsehserien wie „Lindenstraße“ oder „Desperate Housewives“, die durch nachbarschaftliches Nebeneinander strukturiert sind. Doch im Unterschied zu ihnen oder auch zu „Short Cuts“ von Robert Altman, die mit allen Mitteln das Verbindende suchen, verzichtet Moretti auf sanfte Übergänge oder verbindende Momente. Er lässt viele Szenen singulär stehen und reiht diese fast wie in einem Bilderbuch aneinander.
Das Innerfamiliäre im Zentrum
Auch steht nicht das Nachbarschaftliche, sondern das Innerfamiliäre und die Haltungen und Handlungen ihrer einzelnen Mitglieder im Zentrum. Das thematische Spektrum, das sich darüber eröffnet, reicht von persönlichen Befürchtungen und Ängsten über (moralische) Dilemmata bis zur Verhandelbarkeit von Beziehungen. Die Schuld im Falle eines mutwillig verursachten Unfalls wird ebenso thematisiert wie die Frage, wie mit einem in die Kriminalität abgerutschten Familienmitglied umzugehen ist. Beziehungen zwischen Erwachsenen, aber auch zwischen Erwachsenen und Kindern oder Kindern und ihren Eltern werden ausgelegt. Mehrfach geht es auch um Sexuelles, allerdings weniger unter dem Aspekt romantischer Liebe oder erotischer Verbundenheit, sondern unter dem des Missbrauches an einem Kind und an einer Jugendlichen.
Die Gefühlslagen der Protagonisten sind oft angespannt und drohen außer Kontrolle zu geraten; auf die Schilderung des Alltags wird weitgehend verzichtet. Die Männer erscheinen relativ stereotyp in ihren Rollen und Grundsätzen verhaftet. Die Frauen sind sanftmütiger gezeichnet und betätigen sich als Vermittlerinnen. Doch auch ihnen gelingen Veränderung, Befreiung und Eigenständigkeit erst, wenn ihre männlichen Partner aus ihren Leben verschwunden sind. Nach zehn Jahren, zum Schluss des Films, sind alle Paare getrennt, auch wenn sich nicht alle ganz aus den Augen verloren haben.
„Drei Etagen“ ist in der Thematik und im Tonfall überaus ernsthaft. Obwohl der Film zwischendurch zu kurzen zärtlichen und gegen Ende, wo zunehmend auch neue Figuren eingeführt werden, auch zu hoffnungsvollen Momenten findet, werfen die Ereignisse des Beginns einen dunklen Schatten. Es fehlen der leise Humor und die sanfte Ironie, die Morettis frühere, durchaus auch mit ernsten Themen spielende Filme wie „Liebes Tagebuch“, „Das Zimmer meines Sohnes“ oder „Mia Madre“ zu letztlich vergnüglichen Abhandlungen des Humanen machten.
Seltsam aus der Zeit gefallen
Die einzelnen Szenen von „Drei Etagen“ sind sorgfältig inszeniert und die Darsteller als Ensemble gut aufeinander abgestimmt. Doch der Film, dessen Geschehen sich in die 2010er-Jahre einschreibt, scheint seltsam aus der Zeit zu fallen. Man kann den Missbrauchsdiskurs zwar durchaus als Verweis auf „MeToo“ lesen, wenngleich „MeToo“ letztlich keine grundlegend neuen Erkenntnisse lieferte und auch keine Zäsur markiert. Dass die Corona-Pandemie nicht angesprochen wird, hat mit den Dreharbeiten zwischen März und Juli 2019 zu tun. Allerdings wirkt das Fehlen der großen Zeitthemen wie Klimawandel oder soziale Medien unangepasst, da Francesca, Beatrice und Charlotte gegen Ende des Films Jugendliche oder junge Erwachsene sind, was „Drei Etagen“ einen altbackenen Hauch verleiht. Fast scheint es, als ob der Autorenfilmer Nanni Moretti, der bis dato ein überaus feines Gefühl für dem Zeitgeist und soziale Befindlichkeiten besaß, irgendwo zwischen den 1960er- oder 1970er-Jahren hängengeblieben sei.