- RegieTim van Beveren, Kyra Steckeweh
- Produktionsjahr2022
- Dauer116 Minuten
- GenreDokumentarfilmMusikHistorie
- Cast
- AltersfreigabeFSK 6
Vorstellungen
Filmkritik
Anfang November 2018 kam der Dokumentarfilm „Komponistinnen“ von Kyra Steckeweh und Tim van Beveren in die Kinos, der von der Recherche unbekannter oder in Vergessenheit geratener Komponistinnen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erzählt: etwa von Mélanie Bonis, Lili Boulanger, Fanny Hensel und Emilie Mayer. Ausgangspunkt der filmischen Recherche war die Einsicht der Pianistin Steckeweh, dass sie im Rahmen ihrer Ausbildung keinen Kompositionen von Frauen begegnet war und auch das klassische Repertoire vorzüglich von männlichen Komponisten geprägt wird.
Nach Abschluss ihres Studiums recherchierte Steckeweh Werke bislang unbekannter und/oder vergessener Komponistinnen und präsentierte ihre Forschungsergebnisse in mehreren Programmen. Zusammen mit dem Filmemacher Tim van Beveren gelang Kyra Steckeweh eine exemplarische filmische Spurensuche, die auch nach Gründen für dieses eklatante Missverhältnis fragte. Allerdings laborierte der Film „Komponistinnen“ an einer unökonomischen Organisation des recherchierten Materials, dessen Überfluss nicht immer eine gute Gewichtung fand.
So bekannt wie Mozart
Jetzt folgt ein Nachschlag in Form von „Dora – Flucht in die Musik“. Diesmal gilt die Recherche nur einer Komponistin, nämlich der Kroatin Dora Pejačević (1885-1923). Von der heißt es gleich zu Beginn, dass sie in ihrer Heimat „fast so bekannt“ sei wie Mozart. Jedes Kind kenne ihren Namen. Im Verlauf des Films bestätigt sich dann aber, dass dies wohl nur für Kroatien Geltung beanspruchen darf, denn weder die Filmemacher noch die befragten Musiker:innen des Leipziger Gewandhausorchesters haben den Namen Dora Pejačević je gehört.
Pejačević entstammte einer slawonischen Adelsfamilie und wuchs im Schloss ihrer Eltern in Našice auf. Van Beveren wurde in Zagreb eher durch Zufall auf die Komponistin aufmerksam, besorgte sich aber Notenmaterial und schickte es nach Leipzig, wo Steckeweh von dessen Qualität fasziniert war. Jedenfalls gibt sie zu Protokoll, dass Pejačević „unglaublich tolle Werke geschrieben“ habe und jetzt neugierig sei, welcher Mensch dahinterstecke.
Damit beginnt eine umfängliche, etwas ans Schulfernsehen erinnernde Recherche auf der Suche nach der Komponistin und ihrer Musik: ein detektivisches Road Movie zu einstigen Wohn- und Aufenthaltsorten, zu Archiven und Nachfahren, unterfüttert mit Kommentaren von Expert:innen, teils animiertem Archivmaterial und viel Musik, vorzugsweise von Steckeweh selbst vorgetragen.
Als weitere Kommentarebene fungieren Ausschnitte aus Stefan Zweigs Roman „Die Welt von gestern“, die für kursorische Hintergrundinformationen zur Alltagsrealität der Spätphase der k.u.k.-Monarchie sorgen. Weil der Film zugleich auch die Recherche in Form eines „Making of“ präsentiert, dessen Bilder von den Filmemachern ihrerseits mit Off-Kommentaren versehen werden, entwickelt sich aus den unterschiedlichen Schichten ein polyphoner Assoziationsraum, der „ein Bild dieser außergewöhnlichen Frau“ zeichnen will, aber Wesentliches nicht von Nebensächlichem zu trennen vermag.
Den Konventionen ihrer Zeit unterworfen
Zu diesem Bild gehört beispielsweise, dass Dora Pejačević privilegiert aufwuchs, von Hauslehrern ausgebildet wurde, viel reiste und wohl über eine ungewöhnlich vielseitige und weitgespannte Bildung verfügte. Auch wurde sie gefördert, als sich abzeichnete, dass die Musik für sie weitaus mehr als ein Zeitvertreib war. So studierte sie Musik in Dresden und München. Insgesamt hat Dora Pejačević, die im Alter von 14 Jahren erste Kompositionen notierte, bei ihrem frühen Tod 57 Tondichtungen hinterlassen, darunter eine Sinfonie, ein Klavierkonzert, Kammermusik und Lieder.
Gleichzeitig aber war sie den Konventionen ihrer Klasse und ihrer Zeit unterworfen: eine junge Frau, Aristokratin, Künstlerin, die intensive Freundschaften pflegte, in deren Umfeld sich Intellektuelle wie Karl Kraus oder Rainer Maria Rilke bewegten. Der Film profiliert die Widersprüche zwischen Konvention und Subversion, die ihre Biografie charakterisieren. Allerdings schleichen sich dabei merkwürdige Unschärfen und Leerstellen ein. So dient etwa die Misogynie eines Karl Kraus, der davon spricht, dass ein Kunstwerk von der Frau gezeugt, aber vom Mann geboren werde, dazu, die prekäre Position der kreativen Komponistin zu bezeichnen. Pejačevićs Auseinandersetzung mit solchen „Hindernissen“ und ihre Anti-Haltung wird zwar in einem Briefwechsel deutlich, aber nicht weiter eingeordnet.
Später, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und den Nachkriegswirren habe sich Pejačević, die als „politischer Mensch“ charakterisiert wird, von ihrer Klasse distanziert. Auch hier findet sich in einem Brief eine entsprechende Passage, die gleichfalls verlesen, aber nicht gewertet wird. Den Kompositionsprozess verortet Pejačević in der „unsichtbarste(n) Welt eigenster Innerlichkeit“. Der erlebten Dekadenz ihrer Klasse hält sie eine Form von Geistesaristokratie entgegen, die jenen vorwirft, „bar jedes höheren Empfindens, so fern aller großen Ideen, aller Menschlichkeit, allen Fortschritts“ zu sein.
Eine Vielzahl von Puzzleteilen
Zwar wird im Film die paradoxe Position von Pejačević als Aristokratin, Frau und Künstlerin zwischen möglichen Privilegien und Realitätserfahrungen im Krieg und Nachkrieg konstatiert und davon gesprochen, dass sich diese Widersprüche auch in ihrer Musik niedergeschlagen hätten, doch gerade hier unterbleibt ein schlüssiger Beleg. So liefert die materialreiche Spurensuche zwar eine Vielzahl von Puzzleteilchen, vermag aber kein konsistentes Bild zu evozieren, weil der Film sich nicht auf eine ordnende Vermittlung des disparaten Archivmaterials konzentriert.
So ungeklärt wie das Verhältnis zwischen den Kommentaren Stefan Zweigs, der „Frauenfrage“ (Karl Kraus) und der Biografie von Pejačević sich darstellt, so wenig unternimmt der Film eine musikhistorische oder musikwissenschaftliche Einordnung ihrer Kompositionen. Hier wird geschwärmt, nicht analysiert. Einmal taucht Richard Wagner kurz auf, dient aber gleichfalls eher als Beleg für den feinen Humor Pejačevićs („Mein Walhalla“). Später heißt es, dass man (spätromantische) Einflüsse erkennen könne, Pejačević aber eine eigene Handschrift entwickelt habe. Worin diese besteht, erfährt man nicht. Immerhin wird beiläufig erwähnt, dass der skandalös niedrige Anteil von Komponistinnen im Repertoire vielleicht weniger mit patriarchaler Ranküne als vielmehr mit der Schwierigkeit zu tun hat, überhaupt in den Kanon des komplexen Betriebs zu gelangen. Hierin könnte der Ertrag der ausgedehnten Recherche von „Dora – Flucht in die Musik“ liegen, denn Steckeweh und van Beveren gelingt mit großer Beharrlichkeit der Coup, die Symphonie mit dem Leipziger Gewandhausorchester zur Aufführung zu bringen, was der Komponistin selbst 1922 noch verwehrt war.