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Filmkritik
„Ain’t there one damn song that can make me break down and cry?“ – eine Textzeile aus David Bowies 1975er-Song „Young Americans“, der nach knapp drei Stunden das vorgeführte Geschehen ironisiert, enthistorisiert und in einen größeren Kontext stellt. Lars von Trier hat nach der mit „Dancer in the Dark“ (fd 34 476) abgeschlossenen „Goldherz“-Trilogie mit „Dogville“ den ersten Teil seiner „U, S & A“-Trilogie vorgelegt, der lange wie eine Variante des Vorausgegangenen erscheint, sich dann aber als dessen grausame Kontrafaktur entpuppt. Ort der Handlung ist das abgelegene Dorf Dogville, irgendwo in den Rocky Mountains, dessen Einwohner ein selbstgenügsames, gleichförmiges, aber glückliches Leben führen. Dogville ist ein Modell des Lebens in „Smalltown America“, dem moralischen Herzen des amerikanischen Traums. Hier taucht eines Tages Grace auf, die auf der Flucht vor Gangstern ist. Der junge, idealistisch philosophierende Möchtegern-Schriftsteller Tom Edison bringt sie in Sicherheit und stellt sie der Dorfgemeinschaft vor. Grace darf für einige Tage bleiben und bietet als Gegenleistung ihre Dienste an, was zunächst auf wenig Gegenliebe stößt. Doch dank ihrer Beharrlichkeit gelingt es Grace nach und nach, sich der Dorfgemeinschaft nützlich zu machen und auch erste Eindrücke der kleinen Schwächen und Lebenslügen der Bewohner zu sammeln. Schließlich wird einstimmig beschlossen, dass Grace länger bleiben darf. Nach einer kurzen Zeit des Glücks meldet sich die Welt jenseits der Dorfgrenzen zurück: Ein Polizist hängt einen Steckbrief auf, auf dem Grace als Verbrecherin gesucht wird. Damit steigt auch das Risiko der Dorfbewohner, die dies nun nicht nur ökonomisch mit Graces Arbeitskraft verrechnen, sondern auch ihre persönlichen Interessen auf deren Kosten ausleben. In der Folge wird Grace ausgebeutet, erniedrigt, beleidigt und vergewaltigt. Lange Zeit erduldet sie ohne Widerspruch ihre Passion, allein Tom, der ihr wortreich seine Liebe gestand, hält zu ihr. Gemeinsam wird ein Fluchtplan geschmiedet, der auf der Zuverlässigkeit des einfältigen LKW-Fahrers beruht. Doch als auch der sich an Grace vergeht, reiht sich Tom in die umfassende Bigotterie ein – und erinnert sich an die Telefonnummer der Gangster. Bis zu deren Eintreffen muss Grace ein umgearbeitetes Hundehalsband mit Glocke tragen, jede Flucht ist ausgeschlossen. Das Warten wird nur nachts vom rhythmischen Schlagen der Glocke unterbrochen. Endlich rollen Limousinen mit schwerbewaffneten Gangstern heran. Graces Martyrium hat ein Ende. Homini homo lupus. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die Philosophen haben die Welt nur unterschiedlich interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern. Lars von Trier erzählt eine ganz einfache Geschichte, und zugleich gelingt es ihm einmal mehr, das Kino zum Raum religiös-ethischer Reflexionen über Erlösung und Vergebung, aber auch soziologischer Reflexionen über Schein und Sein zu machen. Das hängt zunächst einmal mit der Radikalität der Versuchsanordung zusammen. Die Modellwelt von Dogville ist wirklich ein Modell, das Dorf besteht aus einem aufgezeichneten Stadtplan im Maßstab 1:1, lediglich ergänzt um einige Requisiten, aber auch durch naturalistische Geräusche. Dogville vertraut auf die Imaginationskraft des Zuschauers, und tatsächlich vergisst man erstaunlich schnell, dass man drei Stunden im Kino sitzt, um dem epischen Theater – allerdings filmisch vermittelt – eines hochkarätig besetzten Ensembles zuzuschauen. Es ist nicht nur kaum anzunehmen, dass man James Caan, Lauren Bacall, Nicole Kidman, Udo Kier, Chloe Sevigny, Ben Gazarra und Philip Baker Hall einmal an einem Theaterabend live erleben wird; auch lösen die famose Kameraarbeit Anthony Dod Mantles sowie die Montage von Molly Malene Stensgaard die Statik der Bühnendarstellung völlig auf. Rein handwerklich ist „Dogville“ eine Theateraufführung, wie man sie in den letzten Jahren kaum einmal gesehen hat, was einerseits als Kommentar zum gegenwärtigen Stand des Theaters zu werten ist, andererseits aber auch als Kritik am computergenerierten Hyperrealismus des Hollywood-Mainstreams. Zu dieser Episierung des Stoffes gehören auch die strenge Kapiteleinteilung, der Off-Erzähler und die Barockmusik, allesamt Stilmittel, die „Dogville“ in die Nähe von Kubricks „Barry Lyndon“ (fd 19 995) rücken. Von Trier hat zu Protokoll gegeben, dass er von Brechts wissenschaftlichem Theater inspiriert worden sei, insbesondere vom Song der Seeräuber-Jenny aus der „Dreigroschenoper“. Tatsächlich funktioniert diese Rache-Fantasie einer Erniedrigten und Beleidigten bis zu einem gewissen Punkt als abstrakte Inhaltsangabe von „Dogville“, dessen Schlusspointe, über die hier nichts verraten sei, die Handlung des Films dialektisch auf den Kopf stellt und die wohlfeile moralische Empörung des Zuschauers düpiert. Ärgerte man sich zuvor über die selbstgefälligen und lebensgefährlich eitlen Posen des Idealisten Tom, so wandelt sich die vorgeführte Passion nun zu einer Tugendprobe. Man hat „Dogville“ vorgehalten, anti-amerikanisch zu sein; aber der Film destruiert höchstens ein imaginäres Amerika, dessen Werte „philosophisch“ in einer ahistorischen Annahme der Güte des Menschen gründen. Wer an die „Waltons“ geglaubt hat, wird „Dogville“ anti-amerikanisch finden. Ungleich gehaltvoller ist diese „Dies irae“-Variation – Dreyer bleibt ein großes Vorbild von Triers – jedoch in ihren anti-humanen Zügen, die den Zuschauer von der Legitimität einer alttestamentlichen Gottesvorstellung überzeugen, indem seine Emotionen dieses bezeugen. Dem Menschen ist auf Erden nicht zu helfen: „Dogville“ zeigt auf jeder Ebene die Argumente für die große Rückrufaktion.