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Filmkritik
Irgendetwas stimmt nicht. Die beim Sex ineinander verschlungenen Körper drängen sich so nah an die an der Kopfseite des Bettes positionierte Kamera, dass man nichts als ein gesichtsloses Knäuel aus Haut und Haaren sieht. Gleichzeitig findet das Paar in dem übermäßig breiten Bild keinen richtigen Halt. In „Die Verlorenen“ von Tomasz Wasilewski werden Distanzverhältnisse und Proportionen von Beginn an aus dem Gleichgewicht gebracht und überschritten.
Die Hebamme Marlena (Dorota Kolak) und ihr um einiges jüngerer Mann Tomasz (Lukasz Simlat) wohnen in einer entlegenen Küstengegend. Bevor man sich von ihrem offenbar schon viele Jahre existierenden Beziehungsalltag ein Bild machen kann, dringt auch schon von außen etwas in die Zweisamkeit hinein. Denn Marlena hat sich entschieden, ihren schwerkranken erwachsenen Sohn Mikolaj (Tomasz Tyndyk) bei sich aufzunehmen und zu pflegen. Vor vielen Jahren hat sie ihn in einem trostlosen Heim zurückgelassen, um mit Tomasz zu leben.
Viele Andeutungen & Zeichen
„Die Verlorenen“ (der polnische Originaltitel „Glupcy“ deutet in eine etwas andere Richtung: „Die Törichten“) erzählt von einer Beziehung, die eine tiefe Erschütterung erfährt, deren genaue Hintergründe jedoch erst in den letzten Minuten explizit ausgesprochen werden; die Ahnung, dass sie in irgendeiner Form einen Tabubruch berühren, drängt sich allerdings schon früher auf. Die Inszenierung arbeitet viel mit Andeutungen und Zeichen, Auslassungen und Beschneidungen; auch das Bild hält ständig etwas zurück. Das fast schon „falsch“ aussehende Breitwandformat – der Kameramann Oleg Mutu hat im ungewöhnlichen Format 3.10:1 gedreht – schneidet unweigerlich visuelle Informationen ab. Ab und zu taucht auch Marlenes von ihrer Mutter völlig entfremdete Tochter auf und befeuert mit ihrem feindseligen, zuweilen grenzüberschreitenden Verhalten die Spekulationen. Die Atmosphäre ist durchweg klaustrophobisch und unangenehm.
Unangenehm ist vor allem, wie der Film die Figur des gelähmten, stummen Sohnes zum Instrument der Paarbeziehung objektifiziert. Schon wenn der an der Krankenbahre festgeschnallte Mann unter großer Anstrengung durchs enge Treppenhaus gehievt wird, geht es einmal mehr um ein Hindernis, das die Störungen vergrößert – und nicht etwa darum, die Aufgewühltheit und Ängste des ausgelieferten Sohnes auch nur ansatzweise spürbar zu machen. Auch wenn sich der Film durch seine statischen, eher weiten Einstellungen diskret gibt – das Wechseln der Windeln etwa rutscht aus der Kadrage –, so ist Mikolaj doch nicht mehr als ein im Zimmer abgestellter, wimmernder und wehklagender Körper, dessen extreme Bedürftigkeit das Beziehungsgefüge verschiebt. Denn Marlena ist plötzlich nicht mehr nur Ehefrau und Geliebte, sondern vor allem Mutter.
Alles scheint miteinander verwachsen
„Die Verlorenen“ ist ein Film, der sich darin gefällt, Aufgaben zu stellen. Was genau ist vorgefallen? Warum hat Marlena ihren Sohn verlassen und warum dreht die Tochter fast durch? Auch die Schauplätze beschäftigen durch räumliche Irritationen und fein dosierte Surrealismen. Auf einer Treppe im Pflegeheim (in Krakau!) türmt sich Seegras. In der Wohnung gibt eine Fensterreihe den Blick auf einen lichten, blassrosa Himmel frei, den man fast für eine Fototapete halten könnte (beides findet sich auch in dem Krankenhaus, in dem Marlena arbeitet). Die Räume sind dagegen dunkel und ein wenig exzentrisch tapeziert. In den Rauten und dicht gedrängten Blumenmustern kann man sich ebenso verlieren wie in den labyrinthischen, nicht enden wollenden Korridoren. Die Wege zwischen den Orten, die durch Dünen und Wald führen, sind nicht weniger unwirklich. Alles scheint miteinander verwachsen, wie ein einziger Organismus, der an etwas krankt.