Cast
Vorstellungen
Leider gibt es keine Kinos.
Filmkritik
„Die Theorie von Allem“ hat eigentlich drei Anfänge und mindestens ebenso viele Enden. Dazwischen liegt eine Geschichte, die sich geradlinig vollzieht, obwohl sie an der Oberfläche zunächst chaotischer und verworrener erscheinen kann, als sie es in Wahrheit ist. Das liegt daran, dass Chaos und Verwirrung, das „Wahrscheinlichkeitsgeschwurbel“, wie es von einer Figur genannt wird, eine quantenmechanische „Vielweltentheorie“, im Zentrum des Films stehen. Doch wer sich dem von Regie und Drehbuch ausgelegten Erzählfaden überlässt, wird mit sicherer Hand ins Nachkriegsdeutschland des Jahres 1962 geführt; in ein Land, in dem die Gespenster der deutschen Geschichte noch überaus präsent sind.
Ein misslungener Talkshow-Auftritt
Es beginnt zunächst mit der einzigen Farbpassage innerhalb dieses Schwarz-weiß-Films, mit einer kurzen Szene aus einer frühen Fernsehtalkshow im Jahr 1974. Johannes Leinert, ein Schriftsteller und studierter Physiker, soll seinen ersten Roman vorstellen. Dessen Titel lautet „Die Theorie von Allem“. Leinert macht klar, dass es sich aus seiner Sicht um viel mehr handele als um einen Roman; dass nämlich das, was dort zu lesen ist, nicht fantastisch, sondern wahr sei. Sein Auftritt gerät allerdings schnell zu einem Spießrutenlauf; der der öffentlichen Lächerlichkeit preisgegebene Leinert verlässt vorzeitig die Talkshow.
Es folgt eine Schwarzblende. Dann zeigt die Leinwand nun – in Schwarz-weiß und „12 Jahre zuvor“ – ein prachtvolles Alpenpanorama im verschneiten Schweizer Graubünden. Vordergründig ein idyllisches Bild, wenn da nicht diese beunruhigende Musik wäre, die ahnungsvoll darauf verweist, dass hier nichts lange heil bleiben wird.
Zwei knapp zehnjährige Kinder, Toni und Susi, spielen im Schnee. Nach einer steilen Schlittenfahrt scheint das Mädchen plötzlich verschwunden. Sie hatte in einem Heuschober Zuflucht gesucht, doch in diesem Bretterschuppen verbirgt sich offensichtlich noch mehr: Ein Schacht, aus dem Licht und merkwürdige Geräusche dringen, die die Neugier der Kinder wecken. Sie trauen sich zögernd immer tiefer hinein, die Musik schwillt bedrohlich an, und plötzlich finden die Kinder etwas, was das Bild noch nicht enthüllt.
Nach einer weiteren kurzen Blende setzt in einem dritten Anlauf nun die eigentliche Filmhandlung ein. Johannes Leinert, jetzt 12 Jahre jünger und noch Student am Hamburger Institut für Theoretische Physik, packt im Haus der Mutter seine Sachen. Die Mutter ist um ihren Sohn besorgt; zugleich ermutigt sie ihn, auf der bevorstehenden Reise mit seinem Doktorvater gut zu studieren. Das zwischen Realismus und Märchenhaftem changierende Setting – ein begabter junger Mann bricht voller Hoffnung in die weite Welt auf, um dort das Fürchten zu lernen und erwachsen zu werden – erinnert nicht zufällig an „Die zweite Heimat“ von Edgar Reitz und deren Hauptfigur des Hermännchen, der ebenfalls 1962 ähnlich optimistisch in die Welt hinausgeht.
Die Zeit der frühen Bundesrepublik
Diese drei Anfänge stimmen auf einen Film ein, in dem sich immer wieder Ebenen überlagern oder gegenseitig konterkarieren. Gemeinsam mit seinem Doktorvater Professor Julius Strathen reist Leinert nach Graubünden. Dort versammeln sich Physiker zu einem Kongress über neueste Fragen der Elementarphysik. Nebenbei läuft man Ski. Am ersten Tag lernt Leinert die für ihn ungewohnte Welt des Wissenschaftsbetriebs kennen. Er trifft den von Strathen offensichtlich ungeliebten Kollegen Professor Heinrich Blumberg und andere ausländische Physiker.
Besonders gespannt erwartet man den Vortrag eines iranischen Wissenschaftlers; dessen Ankündigung verspricht, alle bisherigen Widersprüche der konventionellen Quantenmechanik beizulegen und eine „Theorie von Allem“ vorzulegen. Allerdings wird dieser Vortrag bald nach ihrer Ankunft wegen Ausreiseproblemen abgesagt.
Vor allem über die spannungsreiche Konkurrenz zwischen Strathen und Blumberg und ihre Gespräche skizziert Regisseur Timm Kröger einige präzise Einblicke in die politische und sozio-kulturelle Situation der damaligen Bundesrepublik. So heißt es über Strathen wie Blumberg, sie hätten beide „gemeinsam unter Heisenberg gedient“. Gemeint ist der weltberühmte Quantenphysiker Werner Heisenberg. Während über Strathen erzählt wird, dass dieser erst 1955 aus den USA zurückgekommen sei – vermutlich war er während des Dritten Reichs im Exil –, heißt es über Blumberg, er habe im Dritten Reich „die hebräischen Strömungen in der deutschen Wissenschaft bekämpft“. Blumberg wiederum bezeichnet Strathen als „Rechenschieber von Heisenberg“ und einen „frischgebackenen Judenfreund“. Uber allem schweben unausgesprochene Erfahrungen von Weltkrieg und Bombenangriffen, Vertreibung und Völkermord, neuer Demokratie und uraltem Antisemitismus.
Strathen ist ein phlegmatischer Skeptiker, der jeden „spekulativen Quatsch“ verachtet; Blumberg wiederum ermuntert solche Spekulationen bei Leinert und dessen „potenziell revolutionäre Ideen“. Gerade dadurch wird er für den Studenten, der unter seinem ignoranten Doktorvater leidet, zur Inspiration. Mehr und mehr streift der junge Physiker seine anfängliche Schüchternheit ab.
Verrückt oder wahr
Das liegt auch an seiner Bekanntschaft mit der Pianistin Karin, von der er sofort fasziniert ist, zumal diese über rätselhaftes Wissen verfügt und insbesondere über ihn Dinge zu wissen scheint, die nur er selbst kennen kann oder die gar in der Zukunft liegen.
Als an einem der nächsten Tage Blumberg zunächst abreist, dann aber tot aufgefunden wird und später wieder lebend erscheint, und als Karin, die eine Nacht mit Leinert verbracht hat, unversehens wieder kühl und abweisend wird, steigert sich dessen Verwirrung zusehends. Er glaubt, einer Verschwörung auf der Spur zu sein. Oder wird er verrückt? Oder wird hier und jetzt einfach die „Vielweltentheorie“ der Quantenphysik wahr?
Auf dieser Ebene erscheint „Die Theorie von Allem“ nicht weniger als die deutsche Antwort auf Christopher Nolans „Oppenheimer“ zu sein. Und sogar der „Nolan“-eskere der beiden Filme. Beide handeln von der Verbindung von Wissenschaftsgeschichte, Atomphysik und der Situation des Kalten Kriegs. Im Gegensatz zu „Oppenheimer“ aber erzählt Kröger nicht geradlinig, sondern verschachtelt, ambivalent, auf mehreren Ebenen – und zeigt eben damit die einmalige Macht des Kinos: Die Leinwand gibt auch kompliziertesten physikalischen Formeln eine unmittelbare sinnliche Gestalt; sie hält Widersprüche aus und fragt nicht nach Wahrheit, sondern nach Überzeugungskraft.
Zitate, Anspielungen, Fortschreibungen
Filmhistorisch und stilistisch ist „Die Theorie von Allem“ eine Fundgrube für Filmkenner, weil der Film seine soghafte Wirkung auch dadurch entfaltet, dass Zitate und Anspielungen integraler Teil des Bildertextes sind. Es ist ein Paranoia-Thriller mit Mystery-Elementen, ein stark vom Kino der 1940er- und 1950er-Jahre beeinflusstes Werk, namentlich von „Der dritte Mann“ und "Nachtzug nach München“, aber auch von anderen Vertretern des Film-noir-Genres oder polnischen Filmen des Kalten Kriegs, etwa „Nachtzug“ von Jerzy Kawalerowicz. Die prachtvolle Schwarz-weiß-Fotografie von Roland Stuprich ruft Erinnerungen an den Filmexpressionismus wach. Einflüsse von Hitchcock sind unter anderem über die Verwendung bestimmter Musikstücke von Bernard Herrmann erkennbar. Und auch der Einfluss von Edgar Reitz’ „Zweiter Heimat“ ist ebenso offensichtlich wie die der Filme von Helmut Käutner und Wolfgang Staudte oder David Lynch. Es lassen sich wohl noch viele andere Bezüge finden. Die Charaktere allerdings, die diesen Film bevölkern, sind weniger Archetypen als vielmehr moderne Menschen.
In der besonderen Sensibilität für den Einsatz von Musik, aber auch in den Verbindungen zeitlos-klassischer mit modernen Stil-Elementen deutet sich die unverwechselbare Handschrift des Regisseurs an, der vor Sinnfragen keine Scheu zu kennen scheint. Kröger versucht in unterhaltsamer Form, die Wirklichkeit zu begreifen und Auskünfte über sie zu vermitteln. Dazu gehört auch ein Verständnis der Vergangenheit. „Die Theorie von Allem“ ist nach „Zerrumpelt Herz“ der zweite Teil einer Trilogie über das deutsche 20. Jahrhundert und holt dazu geschichtsphilosophisch weit aus. Längst vergangene Zeiten erstehen im Kino wieder, als soghaft-sinnliche Erfahrung, nicht als historisch bebilderte Lehrstunde. Es dominiert die Logik des Traums, die aus Leitmotiven ein immersives Gesamtbild komponiert.
Man muss alles wollen
Dem naheliegenden Vorwurf, „Die Theorie von Allem“ wolle zu viel oder sei zu ehrgeizig, muss entgegnet werden, dass das deutsche Kino allzu lange ambitionslos darniederlag und ein Film, der endlich mal viel oder gar „alles“ will, unbedingt zu begrüßen ist. Kleinere Schwächen, ein erzählerisches „Durchhängen“ im Mittelteil etwa, sind dabei mehr als verzeihlich. Man kann gar nicht ehrgeizig genug sein! Insgesamt gelingt Timm Kröger und seinem Team mit „Die Theorie von Allem“ ein Werk von bestechender Schönheit und einer der ungewöhnlichsten deutschen Filme seit Jahren.