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Filmkritik
Wenn man im Rückblick an „Die Purpursegel“ von Pietro Marcello denkt, drängen sich vor allem Bilder von Händen auf. Hände, die suchen und tasten, die über Wasseroberflächen gleiten und Klaviertasten anschlagen, die Babys halten und Graberde aufwühlen. Besonders aber Hände, die arbeiten, denn das poetische Drama erzählt von Handwerk. Zuerst sind das die Pranken des ruhigen Riesen Raphaël (Raphaël Thiéry), der aus dem Ersten Weltkrieg in sein Heimatdorf und damit auch zu seiner Bestimmung zurückkehrt: „Ich arbeite mit Holz.“ Er sieht selbst aus, als hätte man ihn aus einem knorrigen Ahornbaum geschnitzt. Seine Hände sind grob, bringen aber Filigranstes hervor.
Holz weicht dem Metall
Auch die Finger seine Tochter Juliette sind so zierlich, dass sie kaum zu seinen zu passen scheinen. Und tatsächlich weiß er nicht, ob das kleine Menschenbündel, dass ihm die robuste Madame Adelaide (Noémie Lvovsky) bei der Ankunft überreicht, wirklich von ihm und seiner verstorbenen Frau Marie stammt. Doch das hindert ihn nicht daran, sich liebevoll um die Kleine zu kümmern. Was im ärmlichen Frankreich der Nachkriegsjahre keine leichte Aufgabe, zumal seine Fähigkeiten immer weniger gefragt sind. Die engstirnigen Dorfbewohner beäugen den Veteranen skeptisch; seine Holzspielzeuge werden langsam von den moderneren elektrischen Gerätschaften verdrängt.
So zeigen die romantischen 16mm-Aufnahmen von Kameramann Marco Graziaplena eine Welt im Wandel. Noch vermuten die Menschen Geister und Zauberwesen in Wind und Blattwerk, doch der Horizont füllt sich mit Flugzeugen und Eisenbahnlinien schneiden durch freies Land. Lediglich Juliette widersetzt sich der Entzauberung der Welt. Sie schreibt Gedichte, spielt Lieder und glaubt an die Macht der Träume und Wünsche. Sie hebt den Blick zum Himmel, die Dorfbewohner sehen sie mit dem Kopf in den Wolken. Man verspottet sie und ihren Vater, nennt Adelaides Gehöft spöttisch das „Haus der Wunder“. Als eine ältere Frau (Yolande Moreau) – vielleicht eine Hexe – Juliette eines Tages prophezeit, dass ein Prinz mit purpurnen Segeln für sie am Horizont erscheinen würde, fantasiert sie sich dieser Bestimmung entgegen.
Vorlage für den Film ist die Erzählung „Purpursegel“ (1923) von Alexander Grin, der oft mit dem Untertitel „Eine Feerie“ versehen wird. Es handelt sich um eine Art Meta-Märchen über das Verschwinden der Märchen. Im Film muss die Magie der Welt nie konkret ins Bild gerückt werden, sondern deutet sich in lichtdurchfluteten Natur-Tableaus an. Wälder und Weiden wirken wie verwunschen. Der Einsatz von Handkameras und Archivmaterial suggeriert kurzzeitig einen Naturalismus, der dann aber mit spürbar arrangierten symmetrischen Kompositionen oder Zooms gebrochen wird. Einige Orte, etwa der Dorffriedhof, wirken wie Illustrationen aus alten Märchenfolianten. Juliettes Träume von einem anderen Leben werden in süßlichen Musiksequenzen eingefangen. Ohnehin ist der Film oft nahe an der handlungsarmen Selbstgenügsamkeit vieler Musicals. Immer wieder erobern die Klänge des Komponisten Gabriel Yared die Geschichte, ordnen die Bilder oder scheinen sie sogar hervorzubringen. Auch die Musik macht sichtbar, was andere nur in Juliettes Fantasien verorten.
Nostalgische Sehnsucht nach früher
„Die Purpursegel“ ist insofern zeitgeistig, als der Film sich retrophil nach einer anderen Ära des Kinos sehnt. In einer Zeit, in der Filme nicht nur an Computern zusammengesetzt werden, sondern oftmals ganz dort entstehen, gibt es logischerweise auch eine Gegenbewegung. Film wird in Beziehung zu seinen photochemisch-physischen Ursprüngen gesetzt; das Kino entdeckt sich selbst als Handwerk wieder. Man denke nur an die Filme des kornischen Regisseurs Mark Jenkin, der in seinem Drama „Bait“ von Fischern erzählt, die achtlos von den Flutwellen der Gegenwart fortgespült werden. Oder an das Kino von Alice Rohrwacher, mit der Pietro Marcello bei dem Film „Futura“ (2021) zusammengearbeitet hat. In „Glücklich wie Lazzaro“ rückte Rohrwacher ein zwischen den Zeiten gefangenes Dorf von Landarbeitern in den Mittelpunkt. Das dabei verwendete 16mm-Material verweist nicht nur auf eine prä-digitale, sondern zugleich auf eine prä-moderne Zeit. Filmschaffende wir Rohrwacher, Jenkins und Marcello arbeiten mit Schmalfilmformaten, in der Hoffnung, etwas Verlorenes wiederzubeleben.
Raphaël ergeht es ähnlich. Nach einer langen Phase von Gelegenheitsarbeiten bekommt er endlich die ehrenvolle Aufgabe, dem Holz eine große Gallionsfigur für ein Schiff zu entlocken. Er muss dafür auf eine kaum noch genutzte Technik zurückgreifen. Mehrfach heißt es, diese ganze Mühe würde sich eigentlich keiner mehr machen. Er lehnt die Holzstatue an seine tote Ehefrau Marie an und spricht mit ihr, als stände sie in Fleisch und Blut vor ihm. Eine Variante des Pygmalion-Mythos. In der Arbeit mit seinen Händen nimmt sein Verlangen physische Gestalt an. Doch seine Hoffnung lässt sich nicht in Einklang mit der nunmehr modernen Welt bringen. Raphaëls Kräfte schwinden. Das Wünschen, so heißt es im Film, hilft nicht mehr.
Nur nicht den Glauben verlieren
Oder doch? Juliette ergeht es anders als ihrem Vater. Ihr Traumprinz existiert in Form des Bruchpilots Jean (Louis Garrel) tatsächlich. Er stürzt zu ihr vom Himmel herab, mit einem der Flugzeuge, die als Boten der neuen Zeit herandonnern. Auch die junge Technologie kann Träger alter Magie sein. „Die Purpursegel“ träumt von Synthesen, von Verwandlungen und der Zeitlosigkeit der Bilder. Ihre Liebe ist dann aber komplizierter als im Märchen, viel komplizierter. Über Glück und Unglück, Einsam- oder Zweisamkeit entscheidet nicht allein das Schicksal. Die Grausamkeit und der Egoismus der Menschen lassen sich nicht sauber von Heldenreisen und Drei-Akt-Strukturen verbannen. Schon gar nicht wird das lehrreiche, glückliche Ende vieler Märchen erreicht. Nur den Glauben verlieren, da ist sich der Film sicher, sollte man trotzdem noch lange nicht.