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Filmkritik
Eines Tages, als die Geschwister Kyona und Adriel einen Spaziergang in den Wald in der Nähe ihres Hauses unternehmen, sehen sie in der Ferne ihr Dorf in Flammen aufgehen. Nachdem sie nach Hause zurückgeeilt sind, werden sie Zeugen eines Pogroms. Ihr Volk, die Joriden, wird von vermummten Soldaten, Milizionären und Bauern bedroht, überfallen und geschlagen.
Die Joriden sind eine Erfindung der Filmemacher; sie stehen für viele verfolgte Völker in der jüngeren Geschichte. Die Familie – Mutter, Vater, Adriel und Kyona und ihre drei Geschwister – begibt sich alsbald auf die Flucht; zu groß ist die Gefahr, von ihren Feinden ermordet zu werden. Das halbe Dorf macht sich auf, in der Hoffnung, einen sichereren Ort zum Leben zu finden.
Blonder Unhold, freundliche Hexe
Nach einer Zugfahrt wird die Familie getrennt. Kyona und Adriel bleiben zusammen und erreichen mit Stemestvar eine größere Stadt. Dort werden sie von einer Kinderbande bestohlen, deren Anführer Iskender aus dem Volk der Skanderberg sie unter seine Fittiche nimmt. Doch der Schutz währt nicht lange. Ein finsterer blonder Mann namens Jon entführt die beiden Kinder und verkauft sie an ein verschrobenes reiches Ehepaar.
Das lebt hinter den Ufern des reißenden Flusses, dort, wo auch das Land von Kyonas und Adriels Sehnsüchten liegt. Als die Zeit reif ist, flüchten die beiden aus dem goldenen Käfig ihrer bösen Pflegeeltern. Doch damit beginnt eine neue Odyssee. In einem verwunschenen Wald verlieren sich Schwester und Bruder bei einem Schneegestöber. Kyona kann von einer freundlichen Hexe gerettet werden. Sie gehört wie Iskender dem Volk der Skanderberg an. Doch von Adriel fehlt jede Spur.
Mal Tagebuch, mal Fotoalbum
Das auffälligste Merkmal von „Die Odyssee“ ist seine fantastische künstlerische Gestaltung mit konstanten Anspielungen auf die Kunst der Malerei und des Zeichnens. Damit erscheint Kyona als Alter Ego der Regisseurin Florence Miailhe, einer französischen Malerin. Kvona zeichnet ständig Menschen, denen sie auf ihrer Flucht begegnet. So malt sie aber nicht nur schöne Bilder; ihr Zeichenbuch fungiert auch als Zeitdokument, als Tagebuch und gezeichnetes Fotoalbum.
Die Bilder von „Die Odyssee“ wurden von Miailhe mit Ölfarben auf Glas gemalt. Sie bestechen durch abwechslungsreiche, farbenfrohe rurale und urbane Landschaften, die statisch bleiben, während sich Menschen und Tiere davor bewegen. Vor allem die Natur leuchtet oft in den fröhlichsten Farben, während finstere Stadtviertel, ein Gefängnis für Flüchtlinge oder eine karge Berglandschaft, durch die die Flüchtlinge ziehen, düster und bedrohlich wirken. Zuweilen erinnern die Figuren auch an Chagall. Die Landschaften drücken die unterschiedlichen Stimmungen der beiden Protagonisten auf ihrer jahrelangen Flucht aus, bei der sie schneller erwachsen werden als unter friedlichen Umständen.
Thematisch schwankt die von der Kinderbuchautorin Marie Desplechin und Miailhe geschriebene Geschichte zwischen modernem Märchen und düsterer Dystopie. Die beiden Autorinnen scheuen nicht vor eindimensionalen Bösewichtern wie Jon zurück, lassen aber auch, in Abwandlung von „Hänsel und Gretel“, eine gute Hexe auftreten zu lassen. Märchenhafte Elemente wechseln mit realistischen Zeichnungen von brutalen Soldaten und Polizisten aus diktatorischen Staaten ab. Ambivalente Figuren wie der mit rituellen Tätowierungen übersäte Iskender spiegeln Menschen, die trotz eines mitfühlenden Wesens durch widrige politische Umstände zu Kollaborateuren und Spitzeln werden.
Die Autorinnen werden jedoch nie zu explizit: Alle Figuren und Völker sind fiktional, auch wenn slawische oder skandinavisch anmutende Namen wie das Heimatdorf der Geschwister, Novi Varna oder Anspielungen auf Osteuropäer, Vorderasiaten oder Roma den Film durchziehen.
Ein visuell überwältigendes Werk
Florence Miailhe verweist in Statements auch auf ihre eigene Familiengeschichte als Inspiration für die Migrantenschicksale. Ihre Urgroßeltern verließen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Heimatstadt Odessa aus Furcht vor antisemitischen Pogromen. Auch der Tod des Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi, der 2015 ertrunken am türkischen Strand gefunden wurde, war für die Autorinnen eine Referenz. In ihrem Film, der trotz seiner ansprechenden Bildgestaltung für Kinder kaum geeignet ist, sterben auch tragende Figuren; nichts wird verniedlicht oder abgeschwächt; der Film setzt nicht auf ein Happy End. Gleichzeitig ermöglicht die Animation die Darstellung harter Szenen und umgeht dabei die Gefahr gewaltpornografischer Szenen aus Spielfilmen mit realen Darstellern.
Nicht immer gelingt der Übergang von fantastischen Welten hin zu realistischeren Szenen, doch meist wirkt der von Miailhe kreierte Kosmos stimmig. Gerade vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine erweist der Film seine traurige Aktualität. Dennoch ist „Die Odyssee“ in erster Linie ein visuell überwältigendes Werk, welches das Handwerk und den Mehrwert der Malerei zelebriert. Während des Abspanns erhält man einen kleinen Einblick in die technische Machart des Films und sieht Accessoires aus Miailhes Malatelier sowie Skizzen ihrer großartigen künstlerischen Arbeit.