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Filmkritik
Der Ex-Pianist Thomas (Roeland Wiesnekker) arbeitet an einem Konservatorium als Dozent, und die Grafikerin Anna (Ursina Lardi) illustriert Kinderbücher. Sie wohnen mit ihrer halbwüchsigen Tochter Zoe in einer gutbürgerlichen Altbauwohnung in einer Schweizer Stadt. Nach zwanzig Jahren Ehe ist die anfängliche Liebe abgekühlt, die Beziehung festgefahren. Oft sind die frustrierten Eheleute, beide jenseits der fünfzig, genervt voneinander und verbringen ihre gemeinsame Zeit mit kleinlichen Streitereien oder heftigen Wortgefechten.
Für die sozialen Kontakte der Familie ist in erster Linie Anna zuständig. Als sie ein junges Paar zum Apéro einlädt, das vor einiger Zeit in die Wohnung über ihnen eingezogen ist, reagiert Miesepeter Thomas gereizt. Denn ihn stört schon seit langem, dass Lisa (Sarah Spale) und Salvi (Max Simonischek) beim häufigen nächtlichen Sex so laut sind, dass er und seine Frau das Stöhnen und die Lustschreie mitzählen können. Ja, die beiden Jungverliebten treiben es – noch dazu manchmal mit weiteren Gästen – so wild, dass bei Thomas und Anna die Bilder von den Wänden fallen.
Apéro mit Ruhestörern
Thomas will die nächtlichen Ruhestörungen ansprechen und den beiden endlich die Meinung sagen, Anna möchte keinen Ärger und will genau das unterbinden. Als sie den Apéro gerade absagen will, stehen die Gäste schon vor der Tür. Nach anfänglichem Small Talk, bei dem klar wird, dass der draufgängerische Feuerwehrhauptmann Salvi und die kluge Psychologin Lisa eine offene Beziehung führen, beginnen sie mit Thomas und Anna zu flirten. Je länger die Gespräche dauern und je mehr Alkohol fließt, umso deutlicher treten die Frustrationen und Verletzungen des älteren Ehepaars zu Tage, was zu peinlichen Situationen und Geständnissen führt. Doch dann machen Lisa und Salvi den Gastgebern ein prickelndes Angebot.
„Die Nachbarn von oben“ beruht auf der Filmkomödie „Sentimental“ (2020) des spanischen Regisseurs Cesc Gay. In seinem Drehbuch entwickelte Alexander Seibt den Stoff weiter, indem er neue Szenen erfand und die Figuren veränderte. Die Schweizer Regisseurin Sabine Boss, die gleich mit ihrem Kinodebüt „Ernstfall in Havanna“ (2002) einen Publikumshit landete und mit der Romanverfilmung „Der Goalie bin ig“ (2014) vier Schweizer Filmpreise gewann, beschränkt sich in ihrer warmherzigen Inszenierung nicht auf die komödiantischen Linien des Plots. Vielmehr zeigt sie auch die existenzielle Fallhöhe der Hauptfiguren, die durch die Konfrontation mit den Swinger-Gästen aus ihrer Midlife-Crisis-Lethargie gerissen werden und plötzlich vor der Frage stehen, ob ihre Ehe noch eine Zukunft hat. Die eher komödiantisch orientierte erste Hälfte setzt auf viel Wortwitz, wobei längst nicht alle Pointen zünden. Während es hier zuweilen an Tempo, Pfiff und Passion fehlt, wirkt der dramatische zweite Teil mit der Seelenentblößung der Protagonisten deutlich schwung- und kraftvoller.
Schauspiel-Quartett in Hochform
Hier wird das Quartett aus erfahrenen Schauspielern des Schweizer Kinos auch spürbar mehr gefordert und läuft zur Hochform auf. Das gilt vor allem für Roeland Wiesnekker und Ursina Lardi als in Routine erstarrtes Ehepaar in Aufruhr, dagegen erhalten Sarah Spale und Max Simonischek weniger Gelegenheit, ihre Bandbreite zu zeigen, weil ihre Figuren keine nennenswerten Entwicklungen durchlaufen: Lisa und Salvi ruhen in sich, sie scheinen keine Probleme zu haben und sind mit ihrem Leben offenbar zufrieden – allenfalls haben sie großen Appetit auf zusätzliche erotische Eskapaden.
Das theatralische Setting des Vier-Personen-Kammerspiels erinnert in Sachen scharfzüngige Dialoge an Roman Polanskis schwarze Komödie „Der Gott des Gemetzels“ ebenso wie an die vielen Versionen der Ensemble-Komödie „Perfetti Sconosciuti“. Die lineare Handlung spielt weitestgehend in einer weitläufigen Altbauwohnung plus Dachterrasse und Treppenhaus. Sie lässt der geschmeidigen Kamera von Pietro Zuercher genug Raum, die Interaktionen der Figuren im Cinemascope-Format genau zu beobachten, ohne ihnen zu nah auf die Pelle rücken zu müssen.
Leckerbissen im Soundtrack
Für Musikkenner und Liebhaber der Klassischen Musik haben Boss und die Filmkomponisten einige Leckerbissen in den Soundtrack geschmuggelt. Denn der interpretiert gelegentlich auf eigenwillige Weise Sergej Rachmaninows „Rhapsodie über ein Thema von Paganini“ (1934) und spiegelt so die ambivalente Haltung des verbitterten Thomas, der ein Faible für den russischen Komponisten hat, aber sein Klavier nicht mehr anrührt, seit er vor Jahren seine Ambitionen als Konzertpianist aufgegeben hat.