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Filmkritik
Eine kleinbürgerliche Jugend in Bautzen kurz nach dem Ersten Weltkrieg stellt man sich für eine junge Frau, die Medizin studieren möchte, aber nicht die nötigen Mittel aufbringen kann, deprimierend vor. Helene und ihre Schwester Martha haben es gleich doppelt schwer. Der Vater ist nicht von der Front zurückgekehrt, die Mutter verfällt dem Wahn. Sie wütet auch gegen ihre Töchter und steigert sich in einen Zustand der körperlichen und psychischen Verwahrlosung hinein.
Die Einzige, die den Schwestern aus der Misere heraushelfen könnte, ist eine Tante in Berlin. Sie erhört den Hilferuf und holt die Teenager in die Hauptstadt. Fortan arbeitet Helene in einer Apotheke und versucht ihr Abitur nachzuholen, während Martha offen ihre lesbischen Neigungen auslebt und Kokain konsumiert. Die liberal gesinnte Tante, die in ihrer großen Wohnung regelmäßig exzessive Partys veranstaltet, beteiligt sich an dem Drogenkonsum, finanziert aber auch eine Abtreibung, damit Helene das Medizinstudium fortführen kann.
Männer sind nur Nebenfiguren
Für die abgeklärten Frauen ist es selbstverständlich, dass Helene die Entscheidung für den Abbruch ohne die Zustimmung ihres Freundes trifft. Keine von ihnen erwartet von einem Mann Unterstützung. Und auch für die Regisseurin Barbara Albert sind die Männer nur Nebenfiguren, die etwas eindimensional auf bestimmte Typen beschränkt bleiben: der übergriffige Verführer, der glühende Gottverteidiger, der misogyne Ehemann, der die Gebote der NS-Partei übereifrig erfüllende Chirurg. Die meisten von ihnen sind fehlerhaft. Umso verwunderter ist Helene, als sie nach dem Heiratsantrag ihres Freundes feststellen muss, sich in der Einschätzung ihrer keineswegs ausweglosen Lage getäuscht zu haben.
Die privaten Krisen dieser lebenshungrigen Charaktere werden jedoch zunehmend vom Aufstieg der Nationalsozialisten überschattet. Als Helenes Verlobter, ein sensibler linker Intellektueller, bei einer Demonstration am Reichstag stirbt, beginnt für sie als Tochter einer jüdischen Mutter ein Martyrium. Zunächst glaubt sie noch, das Studium umsetzen zu können. Sie heiratet zur Tarnung einen Nazi-Offizier, der ihr neue Papiere verschafft. Die List erweist sich als Falle, denn der grobschlächtige Wilhelm denkt nicht daran, Helenes Bedürfnisse zu respektieren, weder beruflich noch sexuell.
Ein ungewolltes Kind
Als sie von ihm vergewaltigt wird, versucht Helene zunächst vergeblich, ihre Schwangerschaft zu beenden. Sie bringt ihren Sohn schließlich mit Hilfe liebloser Krankenschwestern zur Welt, während Wilhelm gerade seinen nächsten Karrieresprung unternimmt und sich nach der Geburt von Helene trennt, da sie ihm mit ihrer gefälschten Identität schaden könnte.
Dass sie das ungewollte Kind emotional ablehnt, stürzt Helene in schwere Gewissenkonflikte. Gleichzeitig arbeitet sie Tag und Nacht als Krankenschwester, pflegt verwundete Soldaten, assistiert bei erzwungenen Sterilisationen und begrüßt erleichtert das Kriegsende, das ihre systemtreuen Vorgesetzten als Kapitulation erleben. Sie ist endlich frei und fest davon überzeugt, dass sie sich nur ohne ihr Kind eine Existenz aufbauen könne.
Barbara Albert beginnt die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Julia Franck in den 1950er-Jahren, als Helene mit ihrem Auto in selbstbewusstem Outfit auf einem Bauernhof vorfährt und ihren Gastgeber in die Geschichte der Mittagsfrau verwickelt. Da ahnt man noch nicht, dass der Besuch ihrem Sohn gilt, den sie seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen hat. In Rückblenden schreitet die Erzählung fort, gespickt mit Momenten großer Intimität, von dem tabulosen Berlin der 1920er-Jahre bis zur Endphase des Krieges, in der Helene im Wald mit einer dem Deportationszug entkommenen Jüdin konfrontiert wird.
Schmerzhaft intensive Figuren
Der Kontrast zwischen der Freiheit in der Weimarer Republik und der autoritären Tumbheit der Nazi-Zeit wirkt mitunter klischeehaft. Doch es gelingt Albert meisterlich, die weiblichen Figuren schmerzhaft intensiv zu zeichnen, allen voran Helene, die sich trotz der vielen Kompromisse nicht unterkriegen lässt und Entscheidungen trifft, die in ihrer Zeit, als „unweiblich“ gebrandmarkt, wenig Zuspruch fanden.
„Was bist du bloß für eine Mutter?“, sagt Wilhelm einmal zu ihr, während er sich selbst nicht einmal finanziell an der Erziehung des gemeinsamen Kindes beteiligen möchte. Nicht zuletzt dank der grandiosen schauspielerischen Leistung von Mala Emde gelingt das Psychogramm einer an ihrer Entwicklung gehinderten Frau, die in den Mühlen des 20. Jahrhunderts in den Augen anderer „kaltherzig“ geworden ist, aber eigentlich nur nicht bereit war, den Traum von einem selbstbestimmten Leben aufzugeben.
Helene verteidigt diese Sehnsucht gegen alle Widerstände, weil alles andere den Verlust ihrer eigenen Identität bedeuten würde. Deshalb opfert sie sich als Mutter bis zu dem Moment auf, als sich ihr unverhofft doch noch die Möglichkeit des Entkommens bietet. Das Grauen von Familie, deutscher Geschichte und völkischer Gesinnung, Wahn und kollektivem Opfertod träufelt Barbara Albert dem Frauenporträt leise ein, bis das Gift wirkt und sich Helenes Bewusstsein langsam trübt. Sie muss ihre letzten Kräfte mobilisieren, um sich an ihr junges Ich zu erinnern.
Ein zweiter, magischer Blick
Die „Mittagsfrau“ kippt dabei nie in ein bleischweres Melodram, sondern entwirft eine Leidensgeschichte, in der jede Wendung die Beweggründe der Protagonistin umso schärfer hervortreten lässt. Die Inszenierung verzichtet auf Experimente oder allzu dominante Gestaltungselemente; über lange Strecken verweilt sie in engen, dunklen Räumen. Die Musik setzt nur sparsame Akzente. Albert hat es nicht eilig, erzählt klar und ohne Schnörkel und schafft es doch, die Lust, die Qual und die Anspannung in Helenes Leben in all ihren Schattierungen abzubilden.
Das ist sehenswert, zumal sie sich auch immer wieder von den Härten der Zeit entfernt und mit einem zweiten, magischen Auge auf diese Existenz schaut, als würde eine träumerisch inszenierte, übermalte Wirklichkeit die Garantie fürs Überleben bieten. Es sind Momente zum Innehalten, von der Kamera in warmen Sonnenlichttönen festgehalten, etwa auf einem sommerlich schimmernden Weizenfeld, wo die Figuren alle Last ablegen und sich gemeinsam an einem Neustart versuchen können. Oder wo sie ihre eigenen Wege als Außenseiter gehen müssen.