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Filmkritik
Mit einem verwunderten Blick bemisst Christina (Valeria Bruni Tedeschi) die Distanz zwischen Haus und Kieshügel: „Das ist komisch. Man weiß nicht, ob 100 Meter weit sind oder nicht.“ Es ist das erste Mal, dass sie den in Sichtweite des Küchenfensters gelegenen Ort in Augenschein nimmt, zu dem auch nur hinzuschauen sie sich lange geweigert hatte. Den ganzen Tag über hat ihre zwölfjährige Tochter Marion (Elli Spagnolo) die Linie weggeschrubbt, die sie vor drei Monaten mit blauer Farbe um das Haus gezeichnet hat.
Diese Linie, die dem Film den Titel gibt, markiert eine gerichtlich verfügte Kontaktverbotszone. Margaret (Stéphanie Blanchoud), Christinas älteste Tochter, ist in einem Anfall rasender Wut prügelnd auf ihre Mutter losgegangen. Bis zu einem Urteil darf sie sich dem Grundstück nicht weniger als hundert Meter nähern. Das Verbot weckt bei der Tochter jedoch einen verbissenen Wunsch nach Zugehörigkeit. Kein Tag vergeht, an dem sie nicht zu der Linie zurückkehrt.
Ein blauer Bannkreis
Straßen als gesellschaftliche Grenzen sind im Werk der französisch-schweizerischen Filmemacherin Ursula Meier ein wiederkehrendes Motiv. In „Home“ (2008) ist es eine Autobahn, die das Haus einer Familie vom Sozialen abtrennt, in „Sister“ (2012) eine Straße in der Talsohle eines Skigebiets, auf dem ein viel zu früh erwachsen gewordener Junge gestohlene Skiausrüstung verkauft. Zu der horizontalen und vertikalen Anordnung kommt mit „Die Linie“ nun ein Kreis hinzu. Mit einem hundert Meter langen Seil, das die Mutter in der Hand hält, bewegt sich Marion um 360 Grad; der Bannkreis verläuft über Straßen und Wiesen und grenzt an einen kleinen Kieshügel.
Hier trifft sich Margaret jeden Tag mit der jüngeren Schwester, um gemeinsam Musik zu machen. Da Christina, eine ehemalige Pianistin und Musiklehrerin, nach dem gewaltsamen Übergriff nur noch stark eingeschränkt hören kann, sieht sie sich außerstande, Marion weiter Gesangsunterricht zu geben. Aus Schmerz über den Verlust hat sie sogar ihr Klavier aus dem Haus verbannt.
Ursula Meier setzt auch ein anderes Thema ihrer vorherigen Filme fort: die dysfunktionale Familie. Margarets Körper ist von Narben übersät, die sie sich selbst zugefügt hat. Ihr Ex-Freund, bei dem sie mit blutigen Schrammen vor der Tür steht, gewährt ihr nur unter der Voraussetzung Zutritt, dass sie nicht weitere Verletzungen ansammelt. Eine Linie verläuft auch zwischen dem ehemaligen Paar. Unumkehrbar vorbei ist die Zeit, als sie zusammen auf Konzertbühnen auftraten.
Wehrt sich mit Händen und Füßen
Meier navigiert den Film auf einem schmalen Grat zwischen Realismus und Überformung. Im dramatischen Intro zerschellen in Slow Motion – und zu einer Arie von Vivaldi, einer Vertonung des Psalms „Nisi Dominus“ – Schallplatten, Flaschen, Blumenvasen und Notenblätter an der weißen Wohnzimmerwand. Margaret stürzt wie eine wild gewordene Bestie auf die Mutter los, deren Kopf nach einer schallenden Ohrfeige auf dem Konzertflügel aufprallt. Mit vereinigten Kräften der anwesenden Männer wird die Furie festgehalten und Richtung Tür geschleift; doch Margaret krallt sich an Tischbeinen fest, wehrt sich mit Händen und Füßen. Als sie aus dem Haus geworfen ist, hinaus in den kalten Schnee, trommelt sie von außen gegen die Glastür. Zeitlupe und Musik verleihen dem wüsten Ausbruch eine fast choreografische Anmut.
Margarets Gewalttätigkeit, die anfangs wie eine Naturgewalt erscheint, bekommt im Laufe des Films nicht unbedingt ein Motiv, aber doch immer mehr Kontext. Christinas Egomanie, die sich in Vernachlässigung und theatralen Selbstinszenierungen äußert – und die Valeria Bruni Tedeschi mit überreizter Feinnervigkeit spielt – seziert Maier an der Grenze zur Groteske. „Arme Musikerin, die Pech mit ihren Töchtern hatte“, meint sie mit selbstmitleidigem Seufzen einmal. Ständig betont sie, dass sie für ihre Töchter ihre Karriere aufgegeben hat, ein Opfer, das sie wie eine Waffe einsetzt.
Als ihre mittlere Tochter Zwillinge zur Welt bringt, sieht sie ihre Position als Aufmerksamkeitszentrum gefährdet. Am Weihnachtsabend betrauert sie den Verlust ihres Instruments, während Margaret frierend draußen steht und vergeblich auf ein Zeichen der Annäherung und der Vergebung wartet. Den Familiennachwuchs würdigt Christina in ihrer blumigen Rede mit keinem Wort, dafür preist sie die Liebe zu ihrem viel jüngeren Freund Hervé.
Nicht mit und nicht ohne
Marion ist zwischen Mutter und ältester Schwester hin- und hergerissen. Nach Margarets Verschwinden verweigert sie die Nahrung und spricht nur noch mit Gott. Ihre Mutter Christina quasselt zwanghaft weiter. Dass Meier die Anziehungs- und Fliehkräfte des familiären Gefüges in den Radius eines von massiven Bergen umzingelten Dorfes sperrt, verengt zusätzlich. Eine Beobachtungssituation wie unter einem Brennglas. Hundert Meter sind nichts.