Filmplakat von Desterro

Desterro

122 min | Drama
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Laura lebt mit Israël in Sao Paolo eine in Routine erkaltete Beziehung. Laura verschwindet in Argentinien. Israël scheitert beinah an dem, was dieses Verschwinden mit sich bringt.

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Filmkritik

1, 3, 2 – in dieser Reihenfolge werden die Kapitel des Spielfilmdebüts „Desterro“ von Maria Clara Escobar gezeigt. Und der Titel – übersetzt „Exil“ – wird erst nach etwa zwei Stunden eingeblendet, kurz vor Filmende. Es ist schwer zu übersehen: Alles ist ein wenig durcheinandergeraten. Der Film, die Welt, die Menschen und ihr Innenleben. Das Drama zerlegt die Geschichte einer gescheiterten Beziehung in ihre Einzelteile, setzt sie wieder zusammen und betont dann besonders die Stellen, wo alles nicht so recht zusammenpassen will.

Der Film beginnt mit einer bürgerlichen Normalität, die offenkundig längst keine mehr ist. Laura (Carla Kinzo) und Israël (Otto Jr.) leben eigentlich gut und sicher, kümmern sich um ihren fünfjährigen Sohn Lucas und besuchen regelmäßig seine Großeltern. Aber sie entfremden sich zunehmend voneinander; Kälte und Routine kriechen in ihren Alltag, bis sie den anderen kaum noch wahrnehmen.

Kampf gegen eine kafkaeske Bürokratie

Im ersten Kapitel („Wir sind immer noch dieselben“) wird von der wachsenden Distanz zwischen ihnen erzählt. Das zweite Kapitel („Alles wird gut werden“) begleitet Laura auf einer Busreise durch Argentinien, bei der sie schließlich stirbt. In Kapitel 3 („Lauras Leib“) versucht Israël, ihre Leiche bergen zu lassen und nach Brasilien zu überführen. Doch die kafkaeske Bürokratie bringt ihn bald zur Verzweiflung.

Maria Clara Escobar nähert sich dem Thema mit einer Vielzahl unterschiedlicher Mittel. Als Lyrikerin geht es ihr weniger um eine klare Chronologie, als vielmehr um Emotionen und Stimmungen. Ein ganzheitlicher Blick auf die Ereignisse soll vermieden werden. Das Licht ist stets ein Lux dunkler, als man erwarten würde. Zweifel bestimmen Laura, Israël und die Bilder von ihnen. Jede Einstellung unterliegt einem neuen Ordnungsprinzip. Eine Szene wird vollständig in Nahaufnahmen inszeniert, die nächste hält das gesamte Bild in Unschärfe und verwischt die Konturen eines Straßenzugs und seiner Bewohner. Auf einen schleichenden Zoom folgt eine hektische Parallelfahrt. Manchmal setzt die Tonspur aus, nur um einen Schnitt später tosenden Straßenlärm oder einen ausufernden Monolog auszuschütten.

Dabei wirkt dieser Stilwillen mit seiner deutlich auktorialen Stimme nie aufdringlich. Escobars Arbeitsweise besteht in leichten Verschiebungen. Sie fühlt sich wohl an der Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen dem Wiedergeben von Wirklichkeit und individueller Empfindung. Die Farbpaletten sind wohlgewählt; da passt der türkisblaue U-Bahn-Sitz gut zur violetten Bluse der Frau mit dem dunklen Teint vor dem Hintergrund einer grünlich-verfallenen Stadt. Alles wirkt stilisiert und sanft geformt, ohne überzeichnet oder manieriert zu sein. Die filmische Welt hat immer etwas Artifizielles, Menschengemachtes. Das geordnete Leben, das die Regisseurin vorführt, ist reine Konstruktion. Ein Theaterstück, in dem alle sich selbst spielen. Ein Kartenhaus, das auf einen Windhauch wartet. Folgerichtig beginnt der Film mit einem Regensturm.

Wenn Partner das Interesse verlieren

Es folgen eine Reihe von Frühstücksgesprächen. Die Dialoge sind mechanisch und zweckdienlich. Die Sichtweisen des Paares streifen sich kaum. Über Jogurt und Verdauungsprobleme wird im gleichen Tonfall geplaudert wie über einen Kometen, der vielleicht die Erde zerstört. Wenn hier einmal Leidenschaft brannte, verfliegt längst ihre Asche. Oft wird von den Gesichtern weggeschnitten, auf Topfpflanzen und Fenster, Küchenrollen und Wandschmuck. Die Kamera verhält sich wie ein Partner, der das Interesse verliert. Manchmal wirkt es dann fast, als würden die Objekte miteinander reden. Die Menschen sind schließlich selbst längst zur Dekoration in ihrem eigenen Leben geworden, Einrichtungsgegenstände ihrer Existenz.

Im ersten Kapitel sind die Bilder oft so mit Entfremdung und Einsamkeit vollgestopft, dass kaum noch Raum für etwas anderes bleibt. Laura allein in der Bildmitte, umgeben von „negative space“. Laura, verloren in einer Menschengruppe, man entdeckt sie erst, wenn man nach ihr sucht. Israël auf einer Rolltreppe, von unten gefilmt; das ganze Leben ein passiver, mechanischer Abstieg. Israël auf der Straße, von hinten über die Schulter betrachtet, Laura vor ihm. Sie geht in einen Laden, er bleibt draußen. Verbindet sie überhaupt noch etwas oder laufen sie einfach zufällig dieselbe Straße entlang? Menschen sitzen in der Bahn und sprechen über schreckliche Partys mit deprimierenden Strippern. Man kann verstehen, warum Laura flieht.

Wenn sie fort ist und Israël um ihre Überreste kämpft, gewinnen Kälte und Leere plötzlich eine neue Qualität. Sie strömen aus Bürokratie und Politik, von den nackten Stellwänden eines Verwaltungsbaus und den glatten, schwarzen Tischen der Beamten, in denen sich die Skyline spiegelt. Man fragt sich unwillkürlich, ob sie auch vorher von dorther kam. Lassen Strukturen Zwischenmenschliches scheitern?

Als langjähriger Partner wird Israël dafür bestraft, dass sie nie verheiratet waren. Seiner Familie versucht er alles vorzuenthalten, wahrscheinlich, weil er selbst noch nicht richtig fassen kann, was passiert ist. Nur einmal bricht er aus seiner Stille aus. Wie in der berühmten „Modern Love“-Sequenz aus Leos Carax’ „Die Nacht ist jung“ stürmt Israël eine nächtliche Straße entlang, verfolgt von der Kamera und einem Scheinwerfer, der wie das Suchlicht eines Gefangenlagers anmutet.

Eine Poetik, die die Wirklichkeit neu denkt

Das zweite Kapitel, das den Film abschließt, ist zweifellos das hoffnungsvollste. Es deutet Lauras Flucht emanzipatorisch und fragt nach der institutionslos-omnipräsenten Bürokratie des weiblichen Körpers. Frauen verschiedener Ethnie und Klasse erzählen in Monologen von ihren Erfahrungen in einer männerdominierten Welt. So sind dann die drei Kapitel auch drei Antworten auf die Frage nach dem Scheitern der Beziehung: mit einer individualpsychologischen über eine soziologische bis hin zu einer systemisch-politischen Erklärung. Doch natürlich folgen die Kapitel anders aufeinander, die Abfolge wird gebrochen. „Desterro“ bewegt sich im Zustand der Selbstvernebelung, er kleidet seine Wut in Poesie. Vielleicht ist das das „Exil“ des Titels: eine Poetik, die Wirklichkeit neu denkt und formt, ohne sie jemals ganz aufzugeben.

Erschienen auf filmdienst.deDesterroVon: Lucas Barwenczik (23.11.2021)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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