Vorstellungen
Filmkritik
Hinter „Der Zopf“ steckt eine vielseitige Künstlerpersönlichkeit mit einer außergewöhnlichen Laufbahn: Laetitia Colombani. Dass Schriftsteller:innen sich auch im Regiefach ausprobieren und Filmschaffende auch mal Bücher schreiben, kommt durchaus vor. Im Fall der 1976 in Bordeaux geborenen Colombani ist es jedoch so, dass die Tochter einer Bibliothekarin erst ein Filmhochschulstudium in Noisy-le-Grand bei Paris absolvierte, ehe sie sich als Schauspielerin betätigte und bei mehreren Kurz- und Langfilmen für Drehbuch und Regie verantwortlich zeichnete. 15 Jahre nach ihrem Regiedebüt „Wahnsinnig verliebt" veröffentlichte sie 2017 ihren ersten Roman „La Tresse“ (zu Deutsch: Der Zopf), der mehr als 20 Auszeichnungen gewann und in viele Sprachen übersetzt wurde. Es folgten die Romane „Das Haus der Frauen“ (2020) und „Das Mädchen mit dem Drachen“ (2021). Danach arbeitete sie zusammen mit Sarah Kaminsky ihren Debütroman zum Drehbuch um und führte auch die Regie.
Auf schicksalhafte Weise verbunden
Buch und Film erzählen die Erlebnisse von drei Frauen auf drei Kontinenten, deren Lebenswege auf schicksalhafte Weise verbunden sind, ohne dass sie sich je begegnen. In Nordindien lebt die Familie der jungen Mutter Smita (Mia Maelzer) am Existenzminimum. In den Toiletten der Nachbarschaft sammelt sie Exkremente auf, die in getrocknetem Zustand als Brennmaterial dienen, während ihr Mann als Rattenfänger arbeitet. Smitas größter Wunsch ist, dass ihre Tochter Lalita (Sajda Pathan) eine Schule besuchen kann, um auf diese Weise dem Elend zu entgehen. Doch nach einer entwürdigenden Erfahrung des Mädchens in der Schule beschließt die Mutter, gegen den Willen ihres Mannes mit Lalita zu Verwandten in den Süden des Landes zu fahren.
Im sonnigen Apulien arbeitet die hübsche Giulia (Fotini Peluso) in der Perückenwerkstatt ihres Vaters (Mimmo Mancini). In ihrer Freizeit besucht sie regelmäßig die örtliche Bibliothek. Als der Vater nach einem Verkehrsunfall im Koma liegt, muss Giulia sich um den Familienbetrieb kümmern. Erst jetzt erfährt sie, dass der Betrieb hohe Schulden aufgetürmt hat. Während ihre Mutter (Manuela Ventura) sie drängt, einen wohlhabenden Nachbarn zu heiraten, hat sich Giulia schon in den langhaarigen Sikh Kamal (Avi Nash) verliebt, der in einer landwirtschaftlichen Kooperative arbeitet.
Im Montréal versucht die erfolgreiche Rechtsanwältin Sarah (Kim Raver), ihren Job mit den Pflichten als alleinerziehende Mutter dreier Kinder unter einen Hut zu bringen. Das gelingt ihr nur mit Hilfe eines jungen Haushaltshelfers. Als ihr Chef in Aussicht stellt, dass sie seine Nachfolgerin werden könnte, wird eine Krebserkrankung entdeckt. Sarah verschweigt die Diagnose, weil sie ihre Karriere nicht aufs Spiel setzen und ihre Angehörigen schonen will. Doch dann lassen sich eine Operation und aufwändige Folgebehandlungen nicht mehr vermeiden.
Gedreht in Hindi, Italienisch und Englisch
Die drei Erzählstränge werden durch eine alternierende Montage geschickt miteinander verknüpft, wobei die einzelnen Blöcke im Verlauf des Films tendenziell immer kürzer werden. So entsteht allmählich eine crescendo-artige dramaturgische Verdichtung, bis klar wird, was die drei Handlungsstränge miteinander verbindet. Der Filmtitel und andere mehr oder weniger dezente Andeutungen liefern allerdings bereits Hinweise darauf, weshalb sich bei entsprechender Aufmerksamkeit eine gewisse Vorhersehbarkeit einstellt.
Das Bestreben der Regie, die Inszenierung realistisch zu gestalten, ist unübersehbar. Gedreht wurde an den Originalschauplätzen und mit örtlichen Darstellern in Hindi, Italienisch und Englisch. Während mit Kim Raver eine erfahrene Schauspielerin in die Rolle der arrivierten Anwältin schlüpft, sind die beiden anderen Hauptfiguren mit Mia Maelzer und Fotini Peluso mit Newcomerinnen besetzt.
Alle drei spielen mit Verve Frauenfiguren, die vor große Herausforderungen gestellt werden. Die indische Theaterschauspielerin Mia Maelzer hat dabei die schwierigste, aber auch reizvollste Aufgabe, da sie als bitterarme und „unberührbare“ Frau buchstäblich ums Überleben kämpft und die größte existenzielle Fallhöhe zu bewältigen hat. Eher beiläufig wirft der Film ein kritisches Schlaglicht auf die sozialen Verhältnisse in Indien. Dort schreibt die Verfassung zwar schon seit 1950 vor, dass keine Bürgerin und kein Bürger wegen seiner Kaste diskriminiert werden darf, doch in der Realität werden die Dalit, die „Unberührbaren“, noch immer ausgegrenzt.
Mit empathischer Anteilnahme
Allen drei Hauptdarstellerinnen gelingt es, Empathie für ihre vom Schicksal gebeutelten Figuren zu wecken und einen gewissen erzählerischen Sog zu erzeugen. Allerdings bleiben die Geschichten nicht immer klischeefrei und frei von gelegentlichen Längen. Ein leichter Hang zur Sentimentalität wird auch durch die Musik von Ludovico Einaudi gefördert, die in dramatischen Szenen mitunter dick aufträgt.