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Filmkritik
Das kaiserliche Berlin des Jahres 1896, wie es Lars Kraume zu Beginn von „Der vermessene Mensch“ in wenigen Bildern zeichnet, ist eines der Wissenschaft, der Belustigung und beider unseliger Synthese. An der Friedrich-Wilhelms-Universität, der späteren Humboldt-Universität, lernen angehende Ethnologen feixend, dass Schädelgröße und Intelligenz angeblich korrelieren. Die Minderwertigkeit eines Buschmanns lasse sich also allein daran erkennen, dass dessen Kopf kleiner sei als der eines „Berliner Arbeiters“. Einen Steinwurf entfernt, im Treptower Park, herrscht derweil Jahrmarktstrubel. Die Menschen delektieren sich im Rahmen der Deutschen Kolonialausstellung 1896 am Anblick echter „Hottentotten“, die in Käfigen spärlich bekleidet Stammestänze vollführen. Oder das, was man für Stammestänze halten soll.
Nur beiläufig, wie aus dem Augenwinkel, kommen diese Käfige mit den unwürdig Hopsenden ins Bild. Fast so, als wolle die Kamera von Jens Harant das entmenschlichende Draufglotzen nicht wiederholen. Stattdessen lenkt Kraume den Blick auf eine Herero-Gesandtschaft aus der Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“, dem heutigen Namibia. Die Männer und Frauen sind europäisch gekleidet und besuchen die sogenannte „Völkerschau“ in der Annahme, dort eine Audienz beim deutschen Kaiser erwirken zu können. Sie wollen bei ihrem obersten Kolonialherren für eine diplomatische Lösung der Konflikte in ihrer Heimat werben.
Anders und noch viel schlimmer
Doch anstatt ihnen zuzuhören, vermessen deutsche Wissenschaftler die Gäste: Nasenbreite, Anzahl der Zähne, Hautfarbenabgleich, Schädelumfang. „Jeder Student bekommt ein eigenes Exemplar“, hatte Professor von Waldstätten (Peter Simonischek) versprochen, und die jungen Karrieristen (nur Männer) machen sich mit Eifer an die Arbeit.
Nur die Hauptfigur Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) scheint Skrupel zu haben, als bei seinem Exemplar die Tränen fließen. Er macht trotzdem weiter. Und staunt, als er feststellt, dass sein Forschungsobjekt, die Dolmetscherin Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama), einen Sinn für Literatur besitzt, mathematisch und philosophisch bewandert ist und sich hin und wieder ins Reich der Fantasie flüchtet, „wie jeder Mensch“. Doch mit seiner These, es gebe keine Rassen, nur unterschiedliche kulturelle Prägungen, erntet Hoffmann bei seinen Konkurrenten nur Hohn. „Wer wird Professor“, fragt Kezia den idealistischen Deutschen zum Abschied, „Sie oder der andere?“ Natürlich der andere, ahnt man, doch es wird anders kommen und viel schlimmer.
Schon in diesem ersten Kapitel, dem Auftakt zum bevorstehenden Völkermord, darf man sich einiges fragen. Etwa: Worüber wundert man sich mehr, über die westliche Kleidung der Indigenen? Oder über die Ausgestellten im Menschenzoo? Wie ahnungslos ist man eigentlich? Sind wir Heutigen so viel anders als der junge Wissenschaftler, der über Kezias Intellekt staunt? Nach Schätzungen von Historikern sind zwischen 1904 und 1908 in „Deutsch-Südwestafrika“ zwischen 60.000 Herero und etwa 10.000 Nama ermordet worden, die vielen anderen Verbrechen von Vergewaltigungen bis zur Grabschändung nicht eingerechnet. Es war der erste Genozid des 20. Jahrhunderts. Geplant und durchgeführt von Deutschen.
Zwei Ausgangspunkte
„Der vermessene Mensch“ hat zwei Ausgangspunkte. Erstens Kraumes eigene Reisen nach Namibia kurz nach der Unabhängigkeit des Landes von Südafrika Anfang der 1990er-Jahre. Kraume habe sich damals über die deutsche Unkenntnis der eigenen kolonialen Vergangenheit gewundert, und er erhalte bis heute keine Antwort auf die Frage, warum noch immer Kisten voller Schädel in den Depots deutscher Museen liegen, die im heutigen Namibia längst hätten würdevoll bestattet werden müssen. Der zweite Ausgangspunkt ist der 1978 erschienene Roman „Morenga“ von Uwe Timm. Die Geschichte eines der bekanntesten Anführer im Aufstand der Ovaherero und Nama, erzählt aus der Perspektive eines deutschen Veterinärs, war für Kraume prägend. Timms Buch wurde 1983 von Egon Günther verfilmt.
Auch Kraume hatte schon ein fertiges Drehbuch. Doch die „einzig legitime Erzählperspektive“, so Kraume nach intensivem Austausch mit den in allen Phasen der Filmentwicklung beteiligten Nachfahren der Opfer, „ist für uns die Täterperspektive. Damit verbietet sich eine deutsche Heldenfigur. Und die tragische Heldenreise eines Morenga zu erzählen, wäre kulturelle Aneignung in einer Form, die ich nicht akzeptabel finde“.
Als Apparat des Erzeugens und Präsentierens von Menschenbildern wurzelt das Kino kulturgeschichtlich selbst in jener Zeit, in der sich die westliche Welt ihrer eigenen Überlegenheit durch sogenannte „Völkerschauen“ und pseudowissenschaftliche Kurzschlüsse zu vergewissern versuchte, um ihre imperialistische Brutalität zu legitimieren. Zwischen Anatomischem Theater und Rummelplatz beobachtet Kraume einen unheilvoll in die Zukunft weisenden Rassismus, der sich mit althergebrachtem Klassendünkel vermengt.
Der Druck der Erwartungen
Leonard Scheicher spielt den fiktiven Volkskundler Alexander Hoffmann mit zurückhaltender Naivität, fast schon mit gebotener Blässe. Der feingeistige und ehrgeizige Sohn eines berühmten Ethnologen ist zunächst einmal den Versuchen seiner verwitweten Mutter ausgesetzt, die ihn lukrativ verheiraten will. Kraume, der sich schon in „Der Staat gegen Fritz Bauer“ und „Das schweigende Klassenzimmer“ als kluger Beobachter moralischer Dilemmas erwies, führt den Antihelden als jungen Mann ein, der diesem gesellschaftlichen Druck nur halbherzig zu entkommen versucht, aber eigentlich die Rollenerwartungen zu erfüllen bestrebt ist, der Mutter also ihren Willen zu geben und dem Vater in der Wissenschaft nachzueifern.
Im Schutz der kaiserlichen Armee reist er nach Afrika mit dem Auftrag, „Artefakte“ und andere „materielle Zeugnisse“ einzusammeln, die bei so einem Krieg nun einmal anfallen. Aber er ist auch getrieben von der Hoffnung, Beweise für seine These zu finden und vor allem Kezia wiederzusehen.
Es ist Kraume hoch anzurechnen, dass er auf den Rat der auch als Drehbuchautorin und Filmproduzentin arbeitenden Darstellerin von Kezia, Girley Charlene Jazama, gehört hat, dass eine romantische Liebe einer Herero zu einem Deutschen damals undenkbar gewesen sei. Girley Charlene Jazama ist selbst Herero; anlässlich des Films erforschte sie ihre eigene, vom Völkermord geprägte Familiengeschichte.
Das Klappern der Schädel
Es wurde dem Film vorgeworfen, sich „politisch korrekt“ in alle Richtungen abzusichern. Doch „Der vermessene Mensch“ überzeugt und erschüttert gerade durch seinen Verzicht auf Überwältigung. Etwa, indem er einen Bogen um spekulative Liebesszenen macht, oder auch, indem er das monströse Geschehen des Genozids statt in opulenten Massenszenen über konkrete Gegenstände und Taten einer überschaubaren Figurenzahl zeigt. Der Film ist mutig darin, den Antihelden dabei zu beobachten, wie dessen Idealismus nicht nur keine Gräuel verhindern kann, sondern, in mehreren Zeitsprüngen bis 1920, vollständig korrumpiert wird. Hoffmann schändet schließlich Gräber und belügt sich darüber selbst. Bis zur wörtlichen Selbstzensur, wenn er seinen alten, kritischen Aufsatz über die Suggestivfrage „Gibt es minderwertige Rassen?“ eigenhändig aus einem Buch herausreißt.
Der glaubensfeste und befehlstreue Oberleutnant Wolf von Crensky (Sven Schelker), mit dem Hoffmann in Afrika einen zweifelhaften Pakt schließt, erklärt es ihm einmal so: Die Menschen hätten mehr Angst vor dem Wissenschaftler, in dessen Satteltaschen die Schädel ihrer Liebsten klapperten, als vor mordenden Soldaten. „Wir bringen nur den Tod, Sie aber den Untod.“ Wer den Schädeln die Bestattung verweigert, raubt den Geistern ihre Heimat und den Nachkommen die Identität. Bis heute.