- RegieKristian Petri, Kristina Lindström
- ProduktionsländerSchweden
- Dauer53 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- Cast
- TMDb Rating7/10 (46) Stimmen
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Filmkritik
Luchino Visconti zeigt vor den versammelten Journalisten mit dem Finger auf den jungen Björn Andrésen und preist ihn an wie ein Verkäufer einen kostbaren Kunstgegenstand: „Er ist blond, hat ein perfektes Profil und graue Augen“, sagt der Meister, „sehen sie, er hat diese grauen Augen, ,die Farbe des Wassers‘, wie Thomas Mann schrieb“. Der 15-Jährige, der den Tadzio in Viscontis Verfilmung von „Tod in Venedig“ spielt, steht daneben und lächelt scheu. Was soll er auch tun, er ist ja nur ein Bild.
Jahrelang hatte Visconti nach dem perfekten Darsteller des noch kindlichen Tadzio für seine Adaption der Thomas-Mann-Novelle gesucht. Kristina Lindström und Kristian Petri hoben jenen denkwürdigen Momenten für „The Most Beautiful Boy in the World“ aus den Archiven, als nach Tausenden hoffnungsvoller Knaben, die laut Visconti alle „keine Volltreffer“ waren, endlich der junge Schwede Björn Andrésen die schwere Altbautür in einer Stockholmer Hotelsuite öffnet. Der Film zögert diesen Moment hinaus; die Tür öffnet sich zunächst nur einen Spalt. Noch ist Andrésen unsichtbar im Schatten. Das scheint auch fortan so zu bleiben, suggeriert der Film, denn der Björn Andrésen der Gegenwart, eine hochgewachsene, fast dürre Gestalt, die mit ihrem langen, grauen Haar eher einem Geist ähnelt, streift in verfallenen Hotels durch dunkle Gänge oder durch seine unaufgeräumte Mini-Wohnung.
Von Trauer und Unerlöstheit umflort
Das Motiv der sich öffnenden Tür, hinüber in ein Jenseits oder herein in die Welt, in ein Nicht-Mehr oder Vielleicht-Wieder, kommt in diesem von Trauer und Unerlöstheit umflorten Doku-Essay noch häufiger vor. Zu sphärisch kühlen Synthesizer-Klängen und den Glissandi einer wie aus der Ferne nixenhaft rufenden Frauenstimme (Musik: Anna von Hausswolff und Filip Leyman) schwingt sich „The Most Beautiful Boy in the World“ selbst zu unheilvoller Schönheit auf.
Thomas Manns Buch, Viscontis Verfilmung und diese Dokumentation fragen jeweils mit ihren spezifischen Mitteln, was die leibliche Erscheinung des Schönen bewirken, was der Blick auf das Schöne ausrichten und anrichten kann? Und bei wem, beim Betrachter oder womöglich doch vor allem beim Betrachteten? Was ist fragiler, Kunst oder Leben, was grandioser? Und was überdauert? Beide ringen, so scheint es, in Andrésens Biografie so tödlich miteinander wie in Thomas Manns Novelle. Schon in dieser Nähe liegt eine Tragik, denn der Film erzählt ja vordergründig davon, wie „Tod in Venedig“ das Leben eines zarten Menschen umkrempelte, und wie dieser zeitlebens versucht, sich davon zu befreien.
Das Wort Missbrauch dröhnt zwischen den Bildern und Worten, auch wenn es nur ein einziges Mal ausgesprochen wird, von Andrésens Freundin Jessica. In der um etwa eine halbe Stunde gekürzten Fassung, die vor dem Kinostart bei arte unter dem deutschen Titel „Der schönste Junge der Welt“ ausgestrahlt wurde, fehlt diese Szene. Jessica mistet die verwahrloste Stockholmer Wohnung ihres hilflos und dankbar danebenstehenden Freundes aus, und sie weint, als er ihr von der Zeit mit Luchino Visconti erzählt. Der offen schwul lebende Regisseur, der damals, Anfang der 1970er-Jahre, mit Helmut Berger zusammen war, habe ihn, den schüchternen, hypersensiblen, ahnungslosen Vollwaisen, nach der Premierenfeier von „Tod in Venedig“ in einen Schwulenclub geschleppt. Dabei war ihm schon der Presserummel zu viel, „ein Albtraum“. Im Club wollten ihm alle an die Wäsche. Um seine Umwelt auszublenden, habe er getrunken, was er habe kriegen können. Wie er wieder ins Hotel gekommen sei, wisse er nicht.
Alt geworden vom Versuch, sich zu betäuben
Alt geworden sieht er aus, von dem langen Versuch, sich zu betäuben. Was für ein Gesicht, sowohl das junge als auch das aktuelle, müde, in dem aus eingefallenen Zügen noch immer die Augen mit der „Farbe des Wassers“ blicken. Unentwegt versucht man die Kluft zwischen beiden Erscheinungen zu verstehen oder Ähnlichkeiten zu erahnen. Mit befremdeter Zugewandtheit sieht sich Andrésen die Bilder aus seinem vergangenen Leben an. Etwa als junger Vater, der ängstlich und neugierig die kleine Tochter im Arm hält. Dann erzählt er, wie ihm der kurz danach geborene Sohn durch plötzlichen Kindstod weggestorben ist, während er selbst betrunken daneben lag.
Hier und da trat Andrésen durchaus noch auf, als Musiker und auch als Schauspieler, etwa im Horrorfilm „Midsommar“. Bei den Dreharbeiten schreitet er in gleißendem Licht eine Klippe hinauf und stürzt sich, gut gesichert und einen letzten, kritischen Blick in die Ferne richtend, stumm hinunter. „Beruflich lief es gut“, sagt er einmal, „aber es half mir nicht.“ Die Frage, was dies oder jenes „mit einem macht“, kam erst später auf; zu spät für ihn.
„Kalt wie eine Statue“ müsse sein Tadzio sein, verlangt Visconti bei den Dreharbeiten, es dürfe „nicht ins Sexuelle“ umschlagen, das wäre „ein großer Fehler“. Er preist seinen Darsteller dafür, die Rolle vollständig begriffen zu haben. Die Regieanweisungen an den Jungen sind entsprechend sparsam: Gehen, stehenbleiben, umdrehen, lächeln.
Nachdem Visconti der Welt seinen Film erfolgreich präsentiert hatte, zeigte er kein Interesse mehr an Andrésen. Schon auf der Pressekonferenz in Cannes, auf der er seinen Fund medienwirksam als „schönsten Jungen der Welt“ bezeichnete, hatte er deutlich gemacht, dass sein Star inzwischen ja schon 16 Jahre und also „sehr alt“ sei, nicht mehr so schön wie während der Dreharbeiten. Die edle Ware verdirbt. Die Journalisten kichern, Andrésen lächelt stumm.
Missbrauch mit ästhetischer Adelung
Das abendländische Musen-Konzept erlaubte es lange, noch dem missbräuchlichsten Verhalten eine ästhetizistische Adelung zu verpassen. Dieser Film liefert ein extremes Beispiel dieser Konstellation. Beinahe scheint Andrésen nach seiner Entdeckung wie Freiwild behandelt zu werden: Während er kaum begreift, warum ihn plötzlich alle „lieben“, geht er nach Paris, wo ihm zu seiner Verwunderung alte Herren sein Leben finanzieren, nur um sich mit dem „schönsten Jungen der Welt“ zu zeigen. Das „Maskottchen“ fliegt nach Japan, wo es für Schokoladenwerbung Popsongs auf Japanisch einsingen darf („Ich bin für die Liebe geboren“) und zum gefeierten Idol wird. Fans rücken mit Scheren an, um eine Locke zu ergattern. In der Manga-Szene avanciert er zur Inspirationsquelle; bis heute tragen einige Figuren seine Züge. Der Film zitiert eine feministische Manga-Künstlerin, die erklärt: Björn Andérsen sei für sie und ihre Kollegen schlichtweg nicht zu glauben gewesen, „wie ein Mensch so schön sein kann“.
In Hanna Lejonqvists und Dino Jonsäters subtiler Montage all jener Bildersuchen und -funde legt der Film den Finger auch auf kollektive Wunden. Die gesellschaftliche Errungenschaft einer Entkriminalisierung von Homosexualität war zu Viscontis Zeiten noch eine Utopie. Die ebenfalls erst heute erreichte Wachsamkeit gegenüber seelischem oder körperlichem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist ein anderes Thema, doch beides gerät hier in gefährliche semantische Nähe. Aus heutiger Sicht ist die Unbedarftheit, mit der die Verantwortlichen damals mit dem sensiblen Jungen umgingen, jedenfalls atemberaubend. Das gilt bei weitem nicht nur für die älteren Herren. Dass Andrésen bereits vor seiner „Entdeckung“ traumatisiert war, weil seine Mutter eines Tages verschwand und ein Jahr später tot im Wald aufgefunden wurde, kümmerte offensichtlich niemanden. Über die Mutter und ihren Tod wurde in der Familie fortan geschwiegen. Auf Super-8-Bildern sieht man sie lächelnd durch die Tür einer Holzhütte gehen, im langen, weißen Nachthemd, wie ein Geist.
Hier schlummert ein abgründiger Roman
Auch wenn man dieser Geschichte nicht die klassizistische Wucht von Manns Novelle um den fiktiven Schriftsteller Gustav Aschenbach zugestehen will: Auch hier schlummert ein abgründiger Roman. Diese Frau, Andrésens Mutter, schrieb Gedichte, war offensichtlich künstlerisch talentiert und ambitioniert. Nach ihrem Tod kümmerte sich die Großmutter um den kleinen Björn. Sie schickte ihn zu Castings und vertraute dem Betrieb blind. „Sie wollte, dass ich berühmt werde. Das Einzige, was ich wollte, war Musik machen“, sagt Andrésen. Wenn er zottelig in seiner Wohnung inmitten von Gitarren, Büchern und Krimskrams ein altes Tonband abhört, auf dem er als Jugendlicher virtuos Chopin auf dem Klavier interpretiert, und wenn er später in einem japanischen Hochhaus vor der Skyline am Flügel sitzt, feinen Zwirn am hageren Körper, zeigt sich, dass sie immer noch da ist, seine zerbrechliche Schönheit und seine Aura wie aus einer anderen, leiseren Welt.
Von Menschen, die andere als Rohstoff für ihre Kunst verwenden, erzählen Literatur und Kino gerne und in allen Abstufungen der Gewaltsamkeit, vom bloß empfindsamen Parasitentum bis zum blanken Horror. Nicht nur „Das Parfum“ weidet sich an der überhöhten Verbindung von Genie und Wahnsinn; auch Hannibal Lecter in „Das Schweigen der Lämmer“ darf sich und seine Fleischeslust als kunstsinnig und geistig überlegen und seine Taten als Werk präsentieren. Bis Lars von Trier mit „The House That Jack Built“ ein von sich selbst eingenommenes, menschenverarbeitendes Künstlertum endgültig als jenen bizarren Zynismus und Größenwahn entlarvte, auf den solche Praxis, zu Ende gedacht, hinauslaufen würde.
Am Ende überstrahlt die Kunst alles
Und dann, und das ist das wirklich Erstaunliche an „The Most Beautiful Boy in the World“, ist es dennoch die Kunst, die am Ende alles überstrahlt und transzendiert. Ohne etwas zu beschönigen, fügt sich plötzlich das Getrennte ineinander: Zum Bild des jungen Tadzio im glitzernden Wasser in der letzten Einstellung von Viscontis Film liest Andrésen aus dem Off die letzten Worte seiner verschwundenen Mutter, eine Art Abschiedsgedicht: „Sei still. Keine harten Worte mehr. Weine nicht um mich. Hier gibt es kein Feuer mehr zu löschen“, hört man Andrésens dunkle Stimme. Das Ich sagt, es werde immer unsichtbarer. „Aber ich werde nicht sterben.“ Durch den Gegenschnitt auf Andrésen als alten Mann am Ufer verblendet ihn der Film mit dem sterbenden Gustav Aschenbach aus „Tod in Venedig“, der einen letzten Blick auf Tadzio wirft. Damit aber wird eine neue Autorschaft gestiftet: die eines Idols über seine eigene Geschichte. So erweist sich als stark und tragfähig, was zuvor nur aufgebürdet schien.