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Filmkritik
Bevor der Arbeitsalltag in einem Turiner Schneideratelier beginnt, richtet die strenge Herrin noch schnell die Krägen der Arbeiterinnen. Die 17-jährige Ginia (Yile Yara Vianello) hat hingegen längst die Nadel gezückt; sie ist verlässlich genug, um sich der Kontrolle zu entziehen. Nach dem Tod der Eltern ist die junge Frau mit ihrem Bruder Severino (Nicolas Maupas) aus der Provinz nach Turin gezogen. Während der Junge sich verloren und entwurzelt fühlt, ergreift Ginia jede Gelegenheit für ein aufregenderes, besseres Leben.
Neben der beruflichen Ambition glüht in ihr auch ein Verlangen nach Freiheit und Grenzüberschreitung. Die Hauptdarstellerin Yile Yara Vianello verkörpert diese zerrissene Figur so lebenshungrig wie verwundbar. Bald lernt Ginia die geheimnisvoll laszive Amelia (Deva Cassel) kennen, durch die sich ihr eine fremde, unangepasste Bohème-Welt eröffnet. Amelia ist Nacktmodell und auch Gespielin diverser Maler. Auch Ginia gefällt der Gedanke, sich vor anderen zu entkleiden und durch das Werk eines Künstlers zu erfahren, wer sie wirklich ist. Aber noch fehlt ihr der Mut dazu.
Ein Drama in der Seelenwelt
Der italienische Schriftsteller Cesare Pavese verfasste 1948, kurz vor seinem Selbstmord, die Romantrilogie „Der schöne Sommer“. Diese Geschichte diente bereits als Vorlage für „Die Freundinnen“ von Michelangelo Antonioni. Die italienische Regisseurin Laura Luchetti hat sich nun die erste Erzählung vorgenommen, verlagert zwischen politischen Umwälzungen, gesellschaftlicher Enge und sexuellem Erwachen aber den Schwerpunkt. Die leuchtenden, völlig ergebenen Blicke, die Ginia Amelia zuwirft, verraten schnell, dass es hier um mehr als nur eine Freundschaft geht.
Allerdings führt der verheißungsvolle Titel ein wenig in die Irre. Schön ist der Sommer zwar, weil plötzlich alles möglich zu sein scheint. Aber in ihm stecken auch Enttäuschung und Demütigung. Die Handlung ist in einer konservativen, von Männern beherrschten Welt angesiedelt. Lediglich ein propagandistisches Plakat im Hintergrund und eine Gruppe forscher Soldaten in der Straßenbahn erinnern daran, dass die Geschichte im faschistischen Italien spielt. Das eigentliche Drama ereignet sich hingegen in Ginia Seelenwelt. Auf ihre Neugier und Hoffnung folgt bald Ernüchterung.
Lucchetti lässt die Vergangenheit detailverliebt und elegant auferstehen. Die in ein atmosphärisches Helldunkel getauchten Bilder von Kameramann Diego Romero gleiten durch Turin, vorbei an pittoresken Innenhöfen, unberührten Badebuchten und schlampigen Künstlerstudios. Mit derselben Perfektion, mit der Ginia eine Bluse drapiert, gelingt es dem Set-Design und der Kostümabteilung, die historische Welt lebendig werden zu lassen.
„Walzer für Niemand“
Dank der nebensächlichen Authentizität wirkt hier nichts wie eine Kulisse oder Verkleidung. Doch im Gegensatz zu den gekonnt eingefangenen Oberflächen und Stimmungen fällt der Film erzählerisch etwas unentschlossen aus. Zwar spielt „Der schöne Sommer“ mit der unausgesprochenen Begierde zwischen den beiden Freundinnen, widmet sich dann aber doch etwas anderem. Etwa Ginias Affäre mit dem Maler Guido (Alessandro Piavani). Die Künstler haben den Frauen nichts zu bieten, weil sie sie lediglich benutzen; entweder für ihre Bilder oder fürs Bett. Äußere Umstände wie ihr inneres Verlangen führen Ginia und Amelia unweigerlich zusammen, aber entscheidende Schritte bleibt aus.
Später teilen die beiden dann doch noch einen intensiven Moment. Während in einem Tanzsaal anachronistisch Sophie Hunger ihren Liebessong „Walzer für Niemand“ haucht, scheint die Zeit stillzustehen. Die beiden Körper rücken näher, die Augen fallen zu und die Lippen öffnen sich leicht. Danach fragt man sich, ob alles nur ein Traum war. Was bezeichnend ist für den Film, dem es zwar nicht an Sinnlichkeit mangelt, der aber das Potenzial der Geschichte oft ungenutzt lässt. Egal, ob es sich um Ginias Reifungsprozess handelt, um die ausbeuterischen Methoden der Maler oder die Liebe zu Amelia. Lucchetti vermeidet die Zuspitzung oder verlässt sich in ihrer mäandernden Erzählung zu oft auf schöne Bilder oder die sommerlich-melancholische Stimmung.