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Filmkritik
„Der Gymnasiast“ von Christophe Honoré ist wie ein Katalog möglicher Reaktionen auf den Verlust eines geliebten Menschen. Der 17-jährige Schüler Lucas (Paul Kircher) verliert seinen Vater durch einen Autounfall. Das ist schwer zu ertragen, selbst wenn immer eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen stand. Schwer für ihn, aber auch für seine Mutter Isabelle (Juliette Binoche). Sein Bruder Quentin (Vincent Lacoste) hat es vielleicht etwas leichter. Er wohnt nicht mehr bei ihnen auf dem Land, sondern arbeitet in Paris an seiner Kunstkarriere. Er hat schon etwas Abstand zur Familie und kann in die Arbeit und wilde Aktivität fliehen.
Doch wie begegnet Lucas dem Tod? Mit Überraschung und Überforderung. Sein Alltag implodiert. Zuvor bereitete er sich auf Schulprüfungen vor und alberte mit seinem Freund Oscar (Adrien Casse) herum. Alles war so normal, wie es eben sein kann. Dann plötzlich ernste Gesichter, betretenes Schweigen, schreckliche Ahnungen und schreckliche Gewissheit. Schulprüfungen scheinen nicht mehr so wichtig.
Es folgt Taubheit. Immer wieder vergehen lange Phasen ohne klare Gefühlsregung. Die Kamera ist so nah, dass man sich wundert, nicht doch etwas erspüren zu können. Aber sie filmt nicht automatisch mit, was unter der Haut vorgeht, im Kopf und im Herz. Wer zeigen will, was ein Mensch verbirgt, zeigt besser, was ihn umgibt. Das Licht, den Raum. Die Handkamera von Rémy Chevrin ist gefühlt immer da.
Vor und Zurück, Auf und Ab
Dann mit Ritualen, mit erzwungener Ordnung also. Tote verwandeln sich immer auch in Verwaltungsakte, in Bürokratie, in Unterschriften und Scheine. Es gibt eine Trauerfeier, danach einen Leichenschmaus. Wie es sich gehört. Weil die Welt nicht für den eigenen Schmerz anhält, beginnen Menschen, sich beim Essen über Politik zu streiten. Es geht um den Rechtsextremen Éric Zemmour und den Anschlag im Bataclan. Trauer ist politisch. Später sind Reden von Marine Le Pen zu hören. Wie trauert Frankreich richtig um die Opfer des Terrors, wie wird diese Trauer genutzt? Trauert man bald auch nach Wahlen?
Quentin lädt seinen jüngeren Bruder nach Paris ein. Er soll auf neue Gedanken kommen, andere Dinge erleben, ein paar Museen besuchen. Hier trifft er Quentins Mitbewohner Lilio (Erwan Kepoa Falé) und seine Familie, die auch vom Verlust gezeichnet sind. Lucas realisiert, dass er weicher fällt als andere.
„Der Gymnasiast“ ist kein Film mit eleganter Struktur. Er hat kein klares Ziel, keine zentralen Durchbrüche, nicht einmal die Ordnung eines Kübler-Ross-Modells. Sondern vor allem viele Einzelmomente. Ein ewiges Vor und Zurück, Auf und Ab, Hin und Her. Immer wieder glaubt man fälschlicherweise, der Film wäre vorbei. So muss es auch mit der Trauer sein.
Lucas prügelt sich mehrfach mit seinem Bruder, mit jener liebevollen Grausamkeit, die nur Brüder füreinander übrighaben. Man kennt jeden Knopf, jede Unsicherheit. Man hat mit diesem Fressfeind sein Leben lang am Tisch gesessen und liebt ihn so sehr, wie man ihn manchmal hasst. Lucas wirft Quentin vor, sich eigentlich längst von der Familie abgewandt zu haben. Der ist merklich verletzt, weil er in seinem Bruder wohlmöglich ein Echo der Stimme in seinem Kopf hört, die ihm genau dasselbe erzählt.
Trauer wabert, lähmt, sticht ins Herz
Schließlich kommt der Sex. In einer traumschönen Szene schlafen Oscar und Lucas miteinander, in blaues Licht gehüllt. Es ist der letzte Abend, bevor er nach Paris geht. Ihre weiße, aber blaugestrahlte Haut wirkt wie aus Marmor. Wer hat die beiden nur so perfekt gemeißelt? Manchmal wirkt es, als ständen sie still, als wäre Sex einfach eine Pose, in die man sich wirft. Die Kamera saugt die Lust aus den Gesichtern. Sich lebendig fühlen gegen den Tod. La petite mort gegen den großen, bösen Bruder. Lucas verabredet sich zu anonymem Sex im Internet, flirtet auch mit dem viel älteren Lilio.
Den Tod überspielen, wegsingen, im Familienbund oder allein. Nach der Trauerfeier liegen Isabelle, Quentin und Lucas kraftlos herum. Sie hören Stücke, die sie an den Vater erinnern. Sie tanzen, lächeln halb. Trauer ist nicht immer und überall, wie es die schlechten, in die eigene Schwere verliebten Dramen zeigen, sondern kommt in Wellen. Sie wabert, lähmt, sticht ins Herz.
Ein Voiceover von Lucas ordnet den Film. Irgendwann wird deutlich, dass er mit seinem toten Vater spricht. Nicht, als wäre der eine abstrakte Idee, sondern als stände er direkt vor ihm oder könnte zumindest jeden Moment zur Tür hineinkommen. Manchmal beschreibt Lucas Szenen, die man gerade sieht. Eigentlich redundant; Drehbuchratgeber würden abraten, aber es leuchtet doch ein. Lucas steht neben sich, ganz konkret, er erlebt die Ereignisse von außen. Der Tod treibt ihn nicht einfach in die Introspektion, sondern in eine Doppelposition. Den Körper betrachten, aus dem man gerade spricht. Er will sein Leben zähmen wie ein wildes Tier, sagt er einmal. Wobei er oft eher selbst wie ein wildes Tier wirkt. Ist da ein Unterschied zwischen ihm und seinem Leben? Sind wir unser Leben? Offenkundig nicht, denn vom Vater bleibt ja doch etwas. Erinnerungen, Lieder, Ängste, Hoffnungen, Versprechen. Da muss also mehr sein.
Wie man erinnert werden will
„Der Gymnasiast“ ist dem Vater von Christophe Honoré gewidmet. Die Rolle von Lucas‘ Vater spielt er selbst. Der Tod eines Familienmitglieds wird in der Fiktion der eigene Tod. Es stirbt ein Teil von uns. Honoré lächelt in seiner Rolle mild und verständnisvoll, und seine Haare fallen wild über die Stirn. So möchte man gerne in Erinnerung bleiben.