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Filmkritik
Michael Ondaatjes Buch, auf dem der Film beruht, ist kein konventioneller Roman, dem die Filmemacher einfach Schritt für Schritt hätten folgen können. Es ist eher eine Anthologie von Gedanken, Ideen und Gefühlen, ein kunstvoll poetisches, aber auch realistisches, sogar historisch akkurates Gespinst, dessen elliptische Form erst allmählich eine Story entstehen läßt, deren filmische Nacherzählung - so möchte man meinen - Struktur und individuellen Reiz des Buches nur imitieren, kaum aber wohl adäquat nachgestalten kann. Das Ergebnis auf der Kinoleinwand macht um so mehr staunen, denn Autor-Regisseur Anthony Minghella ("Wie verrückt & aus tiefstem Herzen", fd 29 105) hat in einem ebenso großartigen wie waghalsigen Wurf aus dem Buch einen eigenständigen Film gemacht, der die Poesie der Vorlage nicht zu kurz kommen läßt, aber gleichzeitig dem Kino ein aufwendig schillerndes, melodramatisches Epos übergibt, wie es seit David Leans Zeiten nicht mehr vorgekommen ist.
Die sich über etliche Jahre erstreckende Handlung beginnt im Nordafrika des Jahres 1937, als ein Team englischer Kartografen bei einer Expedition ins westliche Ägypten fantastische Höhlenzeichnungen aus lange vergangenen Zeiten entdeckt. Mit von der Partie ist der ungarische Graf Laszlo Almásy, ein in sich zurückgezogener Abenteurer, der sich dem Unternehmen angeschlossen hat. Es ist nicht ohne Interesse zu wissen, daß sich an dieser Stelle Geschichte und literarische Erfindung berühren: Den Count Almásy hat es tatsächlich gegeben, obwohl seine hier beschriebenen privaten Erlebnisse mit den historischen Fakten nichts zu tun haben. In einem Wüstencamp lernt Almásy den englischen Fotografen Geoffrey Clifton und dessen Frau Katharine kennen, die gleich von der ersten Begegnung an einen tiefen Eindruck auf ihn macht. Nach Kriegsausbruch finden sie sich zwischen den vor- und zurückflutenden Fronten in Kairo wieder. Und dort ist es, wo die beiderseitige Reserviertheit zwischen dem Grafen und Katharine einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung Platz macht, einer emotionalen Bindung, die sich nicht mehr um Konventionen und gesellschaftliche Moral kümmert.
All dies erfährt der Zuschauer aber nicht in chronologischer Darstellung, sondern als bruchstückhafte, fiebergeschüttelte und vom Morphiumrausch vernebelte Erinnerungsfetzen eines bis zur Unkenntlichkeit vom Feuer versengten Patienten in einem ausgebombten toskanischen Kloster. Dort haben kurz vor Kriegsende die weiterziehenden Truppen die kanadische Krankenschwester Hana mit ihrem dahinsiechenden Patienten, keinem anderen als dem Grafen Almásy, zurückgelassen. Wie ein Schatten aus ferner Vergangenheit gesellt sich der mysteriöse Caravaggio zu ihnen, dessen eigenes Schicksal einst mit dem des ungarischen Grafen verbunden war. Während Hana ihren entstellten und bewegungsunfähigen Patienten mit größter Hingabe pflegt und sich im Hintergrund zwischen ihr und dem in der englischen Armee dienenden Inder Kip ein beständig von Todesahnung überschattetes Liebesverhältnis entwickelt, dringen Bilder der schicksalhaft sich verkettenden Afrika-Erlebnisse in das umwölkte Bewußtsein Almäsys zurück: Bilder von einem absichtlich herbeigeführten Flugzeugabsturz, bei dem Katharine schwer verletzt wurde, Bilder von einer verzweifelten Odyssee durch die Wüste und von der eigenen Ohnmacht und Unfähigkeit, die Geliebte vor dem Tod zu retten.
Liebe, Krieg und Tod - das klassische Thema großer literarischer und filmischer Epen wird hier noch einmal angegangen, zu einer Zeit, in der epische Filme selten geworden sind und die Beschäftigung mit dem Sterben so weit wie möglich verdrängt wird. Noch bevor sich die leidenschaftliche Liebe zwischen dem Grafen und Katharine überhaupt entwickeln kann, greift der Film bereits voraus und verrät deren endgültiges Ergebnis - den Tod. Und so heftig sich das Publikum auch in die mit erstaunlicher Behutsamkeit erzählten intimen Details dieser Beziehung verlieren mag, das Melodram findet stets seine Grenzen an einer melancholischen Poesie des Todes, die den gesamten Film überschattet, und am Bewußtsein des Aufeinanderpralls von individuellem Schicksal und unbeeinflußbarer Realität. Man fühlt sich an jene Definition der Liebe erinnert, die Thomas Mann (freilich mit der ihm eigenen Ironie) im "Zauberberg" anbietet: "Sie ist das rührend wollüstige Umfangen des zur Verwesung Bestimmten." Die Story wird nämlich nicht nur aus der Erinnerungsperspektive des dahinsiechenden Brandopfers vorgetragen, sondern ihr korrespondiert auch noch die Liebesgeschichte zwischen Hana und Kip, die jeden Augenblick vom Tod bedroht ist - denn Kip entschärft deutsche Minen für die Alliierten. Die permanente Relativierung des Melodrams durch die Gegenwärtigkeit des Todes bestimmt auch die Gestaltung. Szenen hochfliegenden seelischen Tumults münden stets in dunkle Ahnungen, sich ankündigende Katastrophen und die schmerzüberschattete Gegenwart des vom Feuer entstellten Grafen auf seinemKrankenlager. Sich vollenden kann diese Liebe nur im beiderseitigen Tod.
Die Verknüpfung und beständige Präsenz der Einheit von Liebe, Krieg und Tod hat Anthony Minghella durch einen Kunstgriff erreicht, der die unkonventionelle Konzeption des Romans für den Film in ein dichtes Geflecht aus Gegenwärtigem und Vergangenem umsetzt. Im Endeffekt ergeben die Bilder und Dialoge eine sich wellenförmig bewegende Erzählstruktur, die auf ihre Weise die elliptische Form der literarischen Vorlage wiederholt. Es ist diese gestalterische Form, die mit ihrer Verweistechnik im Zuschauer Ahnungen und Erinnerungen mobilisiert, die der durchaus aktionsreichen Handlung eine zweite, emotionale Ebene verleihen, die nur noch wenige Filme besitzen. "Der englische Patient" hat die elementare Kraft von Szenen, die von Kampf und Zerstörung, Leidenschaft und Verzweiflung berichten; aber er hat auch eine alles überstrahlende lyrische Qualität, die auf erstaunliche Weise dem Tonfall des Buches nahekommt. Es ist ein Film, der wagt, von Gefühlen zu handeln wie seit langem kein Film mehr, der sie weder banalisiert noch im theatralischen Aufwallen eines Melodrams beläßt, sondern der es fertigbringt, einen unwirklichen Schwebezustand herzustellen - einem Traum, aber auch einem Albtraum nicht unähnlich: die gleichzeitige Erfahrbarkeit von Liebe und Tod.
Es wäre zu schön, hätte Minghella es geschafft, dieses Konzept ganz ohne dramaturgische Schwächen zu verwirklichen. Zu sehr in ihrer Bedeutung verringert (gegenüber der Romanvorlage) hat er die Figur des Kip, der eigentlich nur noch ein gutaussehender Stichwortgeber ist. In der insgesamt etwas zu spät zum Tragen kommenden Parallelhandlung zwischen Hana und Kip liegen überhaupt die meisten Schwachstellen des Films - trotz Juliette Binoches kontrastreicher Präsenz. Auch hätte man sich ein wenig mehr Zurückhaltung des Maskenbildners gewünscht, dessen sterbender Almásy zumindest in Großaufnahme zu leicht die Erinnerung an Universals Wolfsmenschen weckt. Doch der große Atem des ehrgeizigen Epos verweht solche Mängel wie der Sandsturm die Spuren des Grafen in der nächtlichen Unendlichkeit der afrikanischen Wüste.