- RegieMichael Haneke
- ProduktionsländerDeutschland
- Dauer144 Minuten
- GenreDramaKrimiKriegsfilmMystery
- Cast
- IMDb Rating7/10 (55171) Stimmen
Vorstellungen
Leider gibt es keine Kinos.
Filmkritik
Die Stimme aus dem Off kommt von weit her, aus einer fernen, fremden und doch seltsam vertraut erscheinenden Zeit, was unter anderem auch am altväterlichen Tonfall des Erzählers liegt, der sich an Ereignisse am Vorabend des Ersten Weltkriegs erinnert: Mit seiner chronikhaften Schilderung will der betagte Lehrer jedoch weniger seine eigenen Erlebnisse rekapitulieren, als vielmehr ein „erhellendes Licht“ auf die Gegenwart werfen. Ort des Geschehens ist ein protestantisches Dorf im Nordosten Deutschlands, das im Sommer 1913 von einer Reihe seltsamer Unfälle und Gewalttaten aufgeschreckt wird. Es beginnt mit dem drastischen Sturz des Arztes, dessen Pferd beim Ausreiten über ein zwischen den Bäumen gespanntes Seil stolpert, wodurch sich der Arzt das Schlüsselbein bricht. Wer und warum dem Mediziner etwas antun wollte, bleibt ein Rätsel. Dann kommt die Frau eines Kleinbauern im Sägewerk zu Tode. Ein Unglück, für das ihr ältester Sohn den Gutsherrn verantwortlich macht, von dem viele am Ort abhängig sind. Aus Rache verwüstet er am Erntedank-Sonntag den Kohlgarten des Guts. Als auch noch ein Kind des Barons vermisst und erst am nächsten Morgen schwer misshandelt nach Hause gebracht wird, gerät das soziale Leben in Aufruhr. Der Baron setzt den Hauslehrer, das Kindermädchen und die Tochter des verwitweten Kleinbauern vor die Tür, mit drastischen Folgen für deren Familien. Seine eigene Frau verschwindet mit den Kindern nach Italien. Wochen später geht die Scheune des Guts in Flammen auf, das Baby des Verwalters holt sich am offenen Fenster beinahe den Tod, ein behinderter Junge wird mit zerschlagenem Gesicht an einen Baum gebunden. Da die brutalen Zwischenfälle nicht abreißen, tritt die Polizei auf den Plan, doch die Ermittler aus Berlin reisen unverrichteter Dinge wieder ab. Einzig der Lehrer erahnt Zusammenhänge zwischen den mysteriösen Vorkommnissen, die mit den älteren Kindern aus dem Dorf zu tun haben müssen. Der in Sütterlinschrift ziselierte Untertitel des Films „Eine deutsche Kindergeschichte“ zielt freilich keineswegs auf einen kriminalistischen Plot, auch wenn der Film einen großen Teil seiner Spannung aus der bohrenden Frage nach den Ursachen der gewalttätigen Vorgänge bezieht. Zwar lässt sich angesichts des mit Theodor-Fontane-Gestus episch flüssig erzählten Dramas beinahe schon von einer inszenatorischen Neuausrichtung bei Michael Haneke sprechen (oder zumindest von einer Rückbesinnung auf sein Frühwerk „Die Rebellion“, 1992, nach Joseph Roth), wobei Haneke konziser und handlungsorientierter als je zuvor inszeniert und die episodische Struktur inklusive einer Vielzahl an Figuren und Ereignissen mit souveräner Leichtigkeit handhabt; doch die verdichtete Spiegelung destruktiver Verhältnisse in kindlichen Lebenswelten zählt seit „Benny's Video“ (fd 30 298) durchaus zum Kernbestand seines filmischen Schaffens. In „Das weiße Band“ erweitert Haneke den inhaltlichen Radius seines Oeuvres um eine historische Dimension: die der schwarzen Pädagogik und insbesondere der Genese autoritäts- und obrigkeitshöriger Charaktere. Die Titelmetapher spielt dabei auf eine Erziehungsmethode im Hause des protestantischen Pfarrers an, der seine beiden älteren Kinder an Unschuld und Reinheit erinnern will, indem er ihnen eine weiße Schleife ans Revers heftet. Hier herrscht ein kalter, unbarmherziger Geist, vom „Herrn Vater“ wortreich, aber auch mit der Rute eingebläut; an Empathie, Mitgefühl oder gar (entwicklungs-)psychologische Einsichten ist nicht zu denken; was zählt, sind einzig Gehorsam, Unterordnung und Disziplin. Das Resultat ist eine hartherzige Verstocktheit, die den Kindern physiognomisch ins Gesicht geschrieben steht: Ohne Widerstand, aber spürbar mit abgründigem Hass lassen die Heranwachsenden die väterlichen Strafexzesse über sich ergehen. Als der Lehrer der Wahrheit schließlich doch nahe kommt und das Vertrauen des Pfarrers sucht, erlebt er die Kehrseite dieses bigotten Verhaltens: Verdrängung, Leugnung und den Zwang zur Uniformität. Was der Film am preußisch-protestantischen Pfarrhaus im Detail seziert, die „Perversion von Idealen, wenn sie in soziale Normen überführt werden“ (Haneke), prägt in Varianten auch die anderen Sphären: die Ehe des Barons oder das (Missbrauchs-)Verhältnis des Arztes und der Hebamme, vor allem jedoch das Leben der Bauern und Tagelöhner, die kinderreich und bettelarm, auf die wirtschaftliche Einbindung in die Gutswirtschaft angewiesen sind. Doch die im Wechsel der Jahreszeiten und der urwüchsigen Landschaft noch versinnbildlichte, über Jahrhunderte gewachsene Ordnung ist auch in der mecklenburgischen Provinz längst „modernen“ Abhängigkeiten gewichen, die sich auf der einen Seite an Rentabilität und Eigennutz orientieren, auf der anderen aber ein wachsendes Maß an Verarmung und ohnmächtiger Wut hinter sich her ziehen. Die Spannungen dieses gespenstischen Mikrokosmos sind so immens, dass die Nachricht von der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers in Sarajewo am 28. Juni 1914 sowie der Kriegserklärung an Serbien fast schon wie eine Befreiung wirkt, wie ein Ventil, durch das sich das aufgestaute Aggressionspotenzial demnächst entladen kann. Dass sich darin auch eine tiefgreifende Umwälzung aller Lebensbereiche ankündigt, liegt in der Logik dieser Zuspitzung. Dennoch zögert man, „Das weiße Band“ als historischen Film zu charakterisieren, weist er doch trotz seiner erstaunlich authentischen Anmutung weit über die Epoche und ihre Umstände hinaus. Das hat primär ästhetische Gründe: Hanekes Film ist ein zeitloses, in sich ruhendes Meisterwerk, eine in noch nie gesehenen Schwarz-Weiß-Nuancen fotografierte August-Sander-Welt, die primär für sich steht, auch wenn die interpretatorischen Pfade und ihre Einbindung in aktuelle Diskurse alles Recht auf ihrer Seite haben. Hanekes in langen Jahren erprobte Methode episodisch-intellektuellen Filmerzählens findet hier zu einer kristallinen Klarheit und Dichte, die in Verbindung mit einem langen Erzählatem seinem Ideal ziemlich nahe kommen: so konkret und sinnlich wie möglich zu sein, den Menschen und ihren Lebensumständen nahe zu kommen, und gleichzeitig der Abstraktion kreative Zugänge zu eröffnen. Allein wie er hier die bedrängenden Existenzschilderungen durch die verhaltene Liebesgeschichte des Lehrers mit dem Kindermädchen austariert oder die Kamera mit einer Hand voll Totalen den Wechsel der Jahreszeiten protokolliert, hebt „Das weiße Band“ weit über vergleichbare Produktionen hinaus. An Wunder grenzen das Casting und die intensive Arbeit mit den Schauspielern (darunter auch viele Kinder), die einzeln zu würdigen jeden Rahmen sprengen würde. „Das weiße Band“ ist deshalb vieles in einem: ein großartiger, von einem absoluten Formwillen durchdrungener Film, der als visuell bestechendes Bilderbuch des ländlichen Lebens Anfang des 20. Jahrhunderts den Diskurs über diese Zeit und ihre Widersprüche bereichert und in einer Weise über preußisch-deutsche (Un-)Tugenden reflektiert, die ihresgleichen sucht.