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Filmkritik
Für seine zehn Jahre hat der kleine Junge schon vieles mitgemacht. Denn seine Mutter stand kurz davor, einem schrecklichen Monster geopfert zu werden. Einzig das Versprechen, für alle Zeiten dem Fliegenden Holländer zu dienen, rettete ihnen beiden das Leben. Doch um welchen Preis? Inzwischen sind 300 Jahre vergangen und das Kind und seine Mutter Madame Pandora leben in der Gegenwart als das, was der skelettige Kapitän der Toten aus ihnen gemacht hat: als Vampire.
Das klingt zunächst nicht nach einem Kinderfilm, auch wenn es sich bei Joann Sfars Umsetzung seines eigenen Comics um einen Trickfilm handelt. Doch auch wenn der Prolog über das Schicksal des kleinen Vampirs recht gruselig ausfällt, verwandelt sich dessen Grimmigkeit recht bald in echte Herzlichkeit, und auch die anderen Monster verlieren zumindest ein Stück weit ihre Garstigkeit. Dennoch dürften sensible Zuschauer nicht vor dem ein oder anderen Albtraum gefeilt sein. Zum Glück, denn „Das große Abenteuer des Kleinen Vampir“ ist ein Film für alle Menschen, für die das Gruseln auch etwas Wohliges hat.
Mathe lernen, Hausaufgaben machen
Zehn Jahre sind eigentlich ein aufregendes Alter für Kinder. Doch wenn diese Zeitspanne 300 Jahre dauert? Der kleine Vampir hat es schon lange satt, immer nur Kind zu sein. Alle anderen haben draußen in der Welt längst das ganze Abenteuer des Erwachsenwerdens ausgekostet. Und der kleine Vampir ist immer noch ein Zehnjähriger. Zumindest so etwas Profanes wie ein Schulbesuch, Mathe lernen oder Hausaufgaben machen wäre doch mal eine Abwechslung im Einerlei, das sich in nächtlichen Ausflügen mit seiner roten Bulldogge Fantomate erschöpft. Nicht einmal andere beißen ist drin. Das hat seine Mutter verboten. Man trinkt als freundlicher Zeitgenosse nicht das Blut von Menschen. Vampir hin, Vampir her!
Es gibt noch einen anderen Grund, warum der kleine Vampir die magische Bannglocke um das große, auf einem Hügel gelegene Anwesen der Familie nicht verlassen darf. Denn draußen schleicht der böse Mann im Mond durch die verwinkelten Gässchen der pittoresken französischen Küstenstadt. Seit mindestens 300 Jahren jagt der Gibbus Vampire – und wenn er sie hat, dann Gnade ihnen Gott.
Was machen kleine Helden, die gelangweilt sind und denen etwas „ganz dolle“ verboten wurde? Es dauert also nicht lange, bis sich ein Weg in die vermeintliche Freiheit findet, bis die erste Schulaula durchstöbert ist und die Aufgaben im Heft eines fremden Kindes gelöst sind. Die Zeit vergeht wie im Fluge, bis der in Mathe nicht gerade talentierte Michael das erste Mal leibhaftig auf seinen geheimnisvollen Helfer trifft. Das könnte der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein. Wären da nicht die familiären Verpflichtungen und vor allem der Gibbus, der schon Witterung aufgenommen hat und nun die Villa kennt, in der sich die Vampire zusammen mit einer illustren Schar anderer kleiner Monster versteckt halten.
Mit allen Fasern seines Seins
Joann Sfar hat kein Interesse an putzigen Figuren, die aus dem fantastischen Gruselkabinett des computeranimierten Hollywood-Animationseinerleis entstammen können. Wie er in seinen Comic und auch in seinem früheren Film „Le Chat du Rabbin“ schon bewiesen hat, wollen seine expressiven, mit grobem Tuschestift gezeichneten Figuren nicht schmeicheln. Dass sie dennoch anrühren, beruht auf seinem ausnehmend skurrilen Zeichenstil. Der Mut zur Simplizität ist seit „Die Simpsons“, „South Park“ oder auch „Beavis and Butt-Head“ zwar auch ein Qualitätskriterium US-amerikanischer Fernsehanimation, dennoch blitzt bei Sfar mehr die Nähe zur artifiziellen europäischen Animationstradition von Tomm Moore, Sylvain Chomet oder Michel Ocelot auf. Künstlerischer Ausdruck steht bei Joann Sfar über artistischer Animationskunst und computeranimiertem Naturalismus. So definiert sich die Figur des Kleinen Vampir visuell zwar eher schlicht über ein graues, linsenförmiges Gesicht, lange, seitlich abstehende Stachelohren und riesige Augen, die seine beiden winzigen Vampirzähne fast übersehen lassen; dafür ist er charakterlich ein vor Energie nur so sprühender Draufgänger, der sein (geistiges) Erwachsenwerden trotz aller Lebensgefahr mit allen Fasern seines Seins erfahren möchte.
Ähnlich abstrakt und rudimentär, aber lebensfroh sind auch die anderen Monster in der Vampirvilla gezeichnet. Eine Bande ausgeflippter Rabauken, die einfach nicht verstehen wollen, dass „ihresgleichen“ in den Horrorfilmen der Menschen immer so negativ dargestellt werden: als Fratzengestalten, die auf ihre Äußerlichkeiten reduziert werden und dazu verdammt sind, immer nur zu verlieren.
Dem gegenüber stehen die nicht selten gemeinen und intoleranten Menschen sowie der alle Freude verachtende Gibbus, der mit seinem aus einem Halbmond bestehenden Gesicht und seinen ungelenken Spinnengliedern in der Tat einem menschlichen Albtraum entstammen könnte.
Visuell eigentümliche Meisterschaft
Die visuell eigentümliche Meisterschaft von „Das große Abenteuer des kleinen Vampir“ steht ein wenig über der vor allem im Mittelteil eher stockenden Geschichte, die nicht so richtig weiß, ob sie nun die einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen dem kleinen Vampir und Michael oder die der Feindschaft zwischen Gibbus und den Vampiren erzählen will. Auch die Vorgeschichte, in der der mit einem absurd riesigen Piratenhut bekleidete Knochenmann und Madame Pandora als Eltern wider Willen installiert werden, fällt ein wenig hinten runter.
Da hätte man sich dann doch die dramaturgische Stringenz einer Blockbusterschmiede wie Pixar gewünscht. Nichtsdestotrotz ist Sfars Animationsfilm nicht nur künstlerisch der überzeugendste Monsterauftritt dieses Winters. Auch wenn er nicht annähernd so viel Aufmerksamkeit bekommen wird wie „Addams Family 2“ oder „Happy Family 2“, lohnt es doch, nach den wenigen Kinos zu suchen, die den „Kleinen Vampir“ aus Frankreich zeigen.