- RegieTilman Singer
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2024
- Dauer102 Minuten
- GenreThrillerHorrorfilmMystery
- AltersfreigabeFSK 16
- IMDb Rating5.7/10 (605) Stimmen
Cast
Vorstellungen
Filmkritik
Ein elterlicher Streit wirft im Prolog einen hässlichen Schatten an die Wand im Treppenhaus. Oben liegt ein Mädchen in ihrem Zimmer unter der Bettdecke, zitternd und bebend. Doch bald tritt es nach draußen. Eine Großaufnahme fängt ein Ohr ein, das plötzlich zu zucken beginnt; das Mädchen hat Kontakt aufgenommen. Nichts hält es mehr in seinem vermeintlichen Zuhause. Es läuft in die Nacht hinaus, und schon nach wenigen Sekunden hat es das Dunkel verschluckt. Es dauert eine Weile, bis man ihr wiederbegegnet.
Die Welt der Erwachsenen ist in diesem Film zum Davonrennen. Solange man auf die Erziehungsberechtigten angewiesen ist, bleibt nur die Wahl zwischen Regen und Traufe. Die Hauptfigur Gretchen (Hunter Schafer) hat eben erst, nach dem Tod ihrer Mutter, ihr US-amerikanisches Zuhause hinter sich gelassen. Sie zieht zu ihrem Vater, dessen neuer Frau und ihrer Halbschwester Alma nach Europa. Genauer gesagt in ein neu entstandenes Ferienresort, an dessen Planung ihr Vater beteiligt ist. Der Chef des Resorts, Herr König (Dan Stevens), grinst die Familie und ganz besonders Gretchen zur Begrüßung ausgesucht schmierig an. Keinen Millimeter darf man diesem Typ trauen. Auch Herr König wohnt dort oben im alpinen Nirgendwo, in einer ausladenden Villa.
Lässige Ein-Frau-Rebellion
Dort ist alles sonderbar, aber auch fürchterlich langweilig, insbesondere für ein Teenie-Mädchen mit Lust auf Rockmusik, heiße Küsse und Abenteuer. Die schlaksige US-Amerikanerin kultiviert eine lässige Ein-Frau-Rebellion und wehrt alle Annäherungsversuche ihrer Umwelt ab. Mit Hilfe ihrer Kopfhörer zieht sie sich in wuchtige Gitarrenklänge zurück und spielt mit ihrem Schmetterlingsmesser. Ihren Namen möchte sie amerikanisch ausgesprochen hören, also cool, smart und entschlossen: „Gretschen“; keineswegs deutsch, hell und lieblich-jungmädchenhaft: „Greeeetchen“.
In dem Bizarro-Heimatfilm, in dem sie gelandet ist, fühlt Gretchen sich jedenfalls fehl am Platz. Der Job an der Rezeption des Hotels, den sie sich gleich nach der Ankunft angelt, könnte ihre Fahrkarte zurück in ein besseres Leben jenseits des Atlantiks sein. Aber ist es wirklich "völlig normal", wie ihre Kollegin meint, dass sich junge Frauen in der schäbigen, wie vieles in dem Film komplett aus der Zeit gefallenen Lobby gelegentlich übergeben? Keineswegs dürfe sie nachts allein nach Hause fahren, hatte der Schmierling Herr König ihr schon eingebläut. Aber Gretchen macht schon aus Prinzip nicht, was Herr König ihr vorschreibt.
Ein Spiel, aus dem man nicht aussteigen kann
Also steigt sie auf ihr Rennrad. Und radelt alsbald um ihr Leben. Das Grauen schleicht sich keineswegs langsam an in diesem Film. Ganz im Gegenteil kracht es ziemlich rabiat und effektbewusst in eine ohnehin schon adoleszent-labile Welt hinein. Es wirft seine grotesken Schatten erst dann voraus, wenn es einem schon hautnah auf den Fersen ist.
Außerdem verbiegt es Raum und Zeit. Und produziert Töne, die man als Zuschauer nicht hört oder jedenfalls nicht differenzieren kann, und die das Bild pulsieren lassen. Es trägt vorderhand das Gesicht einer Frau mit blassem, zur Fratze verzerrtem Gesicht und blondem Haar. Doch Gretchen erkennt schnell, dass sie es nicht mit einer dahergelaufenen Verrückten zu tun hat. Vielmehr ist sie gegen ihren Willen in ein Spiel hineingeraten, aus dem man nicht mehr aussteigen kann, solange man seine Regeln nicht versteht.
„Cuckoo“ von Tilman Singer ist einer der ambitioniertesten deutschen Horrorfilme der letzten Jahre, solange er sich auf die durchaus vielfältigen Erfahrungsdimensionen seiner Hauptfigur konzentriert. Wie ein scheues Tier schaut Hunter Schafer hinter den halblangen Haarsträhnen hervor, die ihr trotzig-widerspenstig ins Gesicht hängen. Adoleszente Totalgenervtheit und markige, vermutlich aus dem Kino abgeschaute Souveränitätsmarkierungen wie das Schmetterlingsmesser verbinden sich mit einer gesteigerten Sensibilität für die Reizsignale der Umgebung. Das grün-dunkle Locken des Waldes – gedreht wurde auf analogem 35mm-Material, was man am sanften Vibrieren der Nachtszenen besonders deutlich sieht –, die träge Passivität ihres Vaters, die aufdringlichen Finger des Herrn König, und flirrende Geräusche, die niemand außer ihr wahrzunehmen scheint.
In eine unverständliche Welt geworfen
Es ist durchaus zu bedauern, dass Singer es nicht dabei belässt. Dabei, die Geschichte einer Jugendlichen zu erzählen, die sich in einer Welt wiederfindet, die sie nicht versteht und auch gar nicht verstehen will. Die wie ein Vögelchen aus dem Nest gestoßen wurde und lernen muss, sich allein zurechtzufinden und zu unterscheiden, wem sie vertrauen kann und wem nicht.
Schade ist auch, dass Singer es nicht dabei belässt, diese Geschichte in eine Abfolge ziemlich spektakulärer Genrekino-Miniaturen zu übersetzen, die keineswegs schematisch gebaut sind und immer wieder überraschende Abzweigung nehmen. Sogar für eine mit voyeuristischen Blickkonstellationen spielende Brian-de-Palma-Hommage ist Platz in diesem Film.
Denn mit zunehmender Laufzeit drängt sich die Frage nach dem Schrecken hinter dem Schrecken mehr und mehr in den Vordergrund. Der Film buchstabiert die abstruse, in die Tiefen von Gretchens Familiengeschichte, aber auch der biologischen Gattungsgeschichte hineinreichende Verschwörung aus, der sich das Grauen verdankt, das die Hauptfigur heimsucht. Was sich unter anderem darin niederschlägt, dass außer Gretchen und dem in seiner dauergrinsenden Abgründigkeit großartig überzeichneten Herrn König fast alle Figuren blass bleiben: bloße Funktionsträger, die nur deshalb mit von der Partie sind, um diese oder jene Drehbuchwendung vorzubereiten.
So mutig wie originell
Tatsächlich fühlt man sich in der zweiten Filmhälfte selbst ein bisschen wie Gretchen: Ständig bekommt man von irgendwelchen Langweilern Dinge erklärt, von denen man eigentlich gar nichts wissen will.
Aus dem Kino fliehen muss man deshalb noch lange nicht. Die etwas schwerfälligen Erzählmanöver, die fast wie Anstandsdamen um die Protagonistin herumplatziert werden, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Tilman Singer einen der originellsten und mutigsten deutschen Filme der jüngeren Vergangenheit gedreht hat. „Cuckoo“ ist ein Film, der zuallererst von der Schaulust her gedacht ist. Allein das ist viel wert.