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Filmkritik
Nach „Paddington“ ist der zweite große Bär der britischen Kinderbuchliteratur an der Reihe, als Filmfigur wiederentdeckt zu werden. Schon 2017 kreiste Simon Curtis’ „Goodbye, Christopher Robin“ um A. A. Milnes „Pu, der Bär“ (1926) – allerdings nicht als Verfilmung, sondern als Filmbiografie über den Autor und dessen ambivalente Beziehung zu seinem Sohn Christopher Robin, dessen Kuscheltiere dem Vater die Idee für seinen Bestseller lieferten und der in fiktionalisierter Form als Protagonist in den Geschichten mitmischte. In Marc Forsters Disney-Film „Christopher Robin“ – das Studio sicherte sich die Rechte an dem Stoff schon in den frühen 1960er-Jahren und baute daraus ein Zeichentrick-Franchise auf – sind Pu, Ferkel, der Esel I-Aah und Co. nun keine Ausgeburten kindlicher Spiele beziehungsweise des Hirns eines schriftstellernden Vaters, sondern echt: In der Exposition sieht man, wie die kauzigen Gesellen (die passend zu ihren literarischen Wurzeln als Kuscheltiere animiert sind) im Hundert-Morgen-Wald zusammenkommen, um ein ernstes Ereignis zu zelebrieren: Ihr Gefährte Christopher Robin muss sich von ihnen verabschieden; seine Kindertage neigen sich dem Ende zu, und der Umzug in ein Internat steht bevor.
Natürlich verspricht Christopher seinem Freund Pu, ihn nie zu vergessen – und natürlich wird er dieses Versprechen brechen. Im Zeitraffer – versinnbildlicht als schnell durchblättertes Lebensbuch – sieht man, wie die Schwerkraft des Erwachsenwerdens Christophers kindlicher Lebenslust die Flügel stutzt, wie ihn die Schule diszipliniert, der Militärdienst im Zweiten Weltkrieg traumatisiert. Danach findet er zunächst neues Lebensglück mit seiner Ehefrau und seiner Tochter, wird aber bald von seiner Arbeit absorbiert – womit der Film in seiner Erzählgegenwart und bei seinem zentralen Konflikt angekommen ist: Der erwachsene Christopher Robin sieht in seinem auf Effizienz getrimmten Alltag den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr, vernachlässigt seine Liebsten, belastet seine kleine Tochter seinerseits durch zu viel Leistungsdruck – und muss erst wieder zurückfinden in den Hundert-Morgen-Wald, um zu erkennen, was wirklich wichtig für ihn ist.
Wie schon in seinem Porträt eines anderen Kinderbuch-Autoren, „Wenn Träume fliegen lernen“ um „Peter Pan“-Erfinder J.M. Barrie, beschwört Marc Forster also auch hier die „Neverlands“ kindlicher Fantasie als Korrektiv für die Entfremdungen des Erwachsenenlebens. Den „Cicerone“ bei dieser Entwicklung gibt selbstredend Pu: Er taucht eines Tages bei Christophers Haus in London auf und nötigt seinen völlig verdatterten Kindheitsfreund, ihn nach Hause zu begleiten. Was zu einem turbulenten Clash führt: Pu ist im Getriebe der Großstadt ebenso ein „fish out of water“ wie bald Christopher im Hundert-Morgen-Wald, wo ihn außer Pu erstmal niemand wiedererkennt.
Der Film kreiert aus dieser Konfrontation viele lustige Szenen; ein so fröhliches Nachleben als Kinderkinoheld, wie es „Paddington“ in den beiden Realfilm-Adaptionen von 2014 (fd 42 794) und 2017 (fd 45 103) hat, ist dem kleinen Pu aber trotzdem nicht beschieden: zu grau hängen die Wolken über der südenglischen Landschaft, und zu viel Melancholie sitzt in dem ernsten Teddy-Gesichtchen von Pu und in den kleinen Fältchen um die Augen von Hauptdarsteller Ewan Mc Gregor.
In „Goodbye, Christopher Robin“ herrschte eine latente Reibung zwischen den in idyllisches Licht getauchten Bildern und dem eigentlich dunklen Tonfall der Geschichte – um einen Autor, der um des Erfolgs willen die intime Fantasiewelt seines Kindes zum öffentlichen Gegenstand macht. In Marc Forsters Film ist es nun eine Reibung in umgekehrter Richtung: die heiter-naive Story um die Heilung eines von der urbanen Arbeitswelt deformierten Mannes durch die Wiederbegegnung mit den kuscheligen Inkarnationen seiner Kindheit reibt sich an einer Inszenierung, die die Traurigkeit um die (unausweichliche) Vertreibung aus dem Paradies der kindlichen Unbeschwertheit bis zum Schluss nicht ganz los wird.
Während man aber in „Goodbye, Christopher Robin“ stets das Gefühl hatte, eine bittere Pille zu süß serviert zu bekommen, wirkt diese Reibung in Disneys „Christopher Robin“ durchaus passend: Schon dadurch, dass die wichtigste Identifikationsfigur des Films, wie der Titel ja andeutet, der Erwachsene Christopher Robin ist und nicht etwa Pu oder Christophers kleine Tochter, signalisiert der Film, dass er sich mindestens so sehr, wenn nicht vielleicht sogar mehr als an Kinder an ein erwachsenes Publikum richtet, das mit leiser Wehmut an die eigene Kindheit zurückdenkt. Vor allem Ewan McGregors einfühlsames Spiel, aber auch das liebevoll-schlichte „Creature Design“ von Pu und Co., das primär durch die Sprecher Charakter bekommt (zumindest im englischen Original), navigiert den Film dabei souverän an der Schmalzigkeit vorbei zum anrührenden Nostalgie-Fest.