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Filmkritik
Zur Vergangenheit haben die „Tombaroli“, die italienischen Grabräuber, ein gespaltenes oder vielmehr ein pragmatisches Verhältnis. Den Glauben an Seelen halten sie für Unfug, auch denken sie gar nicht daran, der Generation ihrer Eltern nachzueifern und sich den Rücken durch harte Arbeit kaputtzumachen. Statt auf die Felder zu gehen oder in die Fabriken, die bald aus dem Boden wachsen werden, halten sie sich lieber mit der Plünderung etruskischer Gräber über Wasser. Viel kommt dabei zwar nicht herum, weil es „Arme-Leute-Gräber“ sind, aber der Traum vom großen Schatz, der sie ein für alle Mal aus der Armut befreit, ist stetiger Antrieb. In ihrer Heimatstadt am Tyrrhenischen Meer sind die „Tombaroli“ kleine Berühmtheiten; von der örtlichen Polizei werden sie verfolgt, von den Bewohnern geduldet, in Volksliedern besungen. So wird man sich später einmal, wenn sie selbst längst der Vergangenheit angehören, vielleicht an sie erinnern.
Für eine Kultur des Bewahrens
„La Chimera“ ist nach „Land der Wunder“ (2014) und „Glücklich wie Lazzaro“ (2018) der letzte Teil einer filmischen Trilogie, die nach dem Umgang mit der Vergangenheit fragt. Die Regisseurin Alice Rohrwacher lässt dabei Gegenwartsmarkierungen auf Zeichen des Archaischen und Vergangenen treffen. Oft sind „alte Geschichten“ wie Heiligenlegenden, Fabeln und Märchen miteingewoben, nicht als unberührte Überlieferungen, die es wiederzubeleben gilt, sondern als von Alltag und Zeit verschlissene und in den Volksgebrauch übergegangene „Reste“.
Auf eigenwillige, anti-konservative Weise arbeitet Rohrwacher an einer Kultur des Bewahrens. Ihr Blick gilt dabei den Außenseitern der Gesellschaft: Zirkusleuten, Vagabunden, Menschen, die wie in der Zeit des „Es war einmal“ leben; so heißt es in „Land der Wunder“ einmal über den Mikrokosmos einer alternativen Agrargemeinschaft.
In „La Chimera“, der in den 1980er-Jahren spielt, befindet sich das „Es war einmal“ in den Tiefen der Erinnerung – und ein paar Meter unter der Erde. Arthur (Josh O’Connor), ein Engländer als Herzstück der Grabräuberbande, hat gute Verbindungen zum „Untergrund“, wie es in einem der Lieder zweideutig heißt. Mit einer Wünschelrute kann er die Leere der Erde erspüren, in der sich die Hinterlassenschaften einer vergangenen Welt befinden. Mit einem zu hellen, zu dünnen Anzug und einem für sensible Nasen nicht zu überriechenden Knastgeruch kehrt „Il Rabdomante“ (der Wünschelrutengänger) zu Beginn des Films in sein ärmliches, an der Stadtmauer gelegenes Wellblech-Quartier zurück. Mit seiner früheren Bande ist er schnell wieder vereint. Wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, treibt es ihn bald wieder auf Äcker, Brachen und Industriegelände, unter denen die Toten ruhen.
Am roten Faden der Liebe
Wenn er gerade wieder einmal eine seiner „Chimären“ hat, dreht sich die Kamera um 180 Grad und Arthur schwebt wie durch wundersame Gravitationskräfte gehalten kopfüber an der oberen Bildkante. In Erinnerungsflashs, denen die Kamerafrau Hélène Louvart die entrückte Anmutung eines Fundstücks aus vergangenen Zeiten verleiht, wird der Faden Wirklichkeit; er ist aus roter Wolle gesponnen und buchstäblich mit Arthurs verlorener Liebe Beniamina verbunden.
Rohrwacher entfaltet eine mäandernde Erzählung mit einem ganzen Ensemble charismatischer Figuren. In einem maroden Palazzo, in dem das Wasser durch die Decke tropft, lebt die ehemalige Opernsängerin Flora (Isabella Rossellini), eine Gräfin. Sie ist Beniaminas Mutter – und Mutter einer schwer zu überblickenden Anzahl von Töchtern und Enkeltöchtern. Flora gibt der hochgeschossenen, nicht sonderlich gesangsbegabten Bediensteten Italia (Carol Duarte) Unterricht, die heimlich ihre zwei kleinen Kinder im Haus beherbergt und sich Arthur über die Geheimsprache eines sehr speziellen Italienisch-Crash-Kurses annähert. Dann gibt es aber auch noch Spartaco (Alba Rohrwacher), eine im Verborgenen agierende Person, die die Raubgüter ankauft, um sie auf dem Kunstmarkt gewinntreibend anzubieten. Spartacos Leute operieren in weitaus größeren Dimensionen, auf Frachthäfen und mit dem notwendigen Gerät, mit Baggern, Baukränen, Gabelstaplern.
„La Chimera“ entwirft ein filmisches Universum, in dem Realität und Fantasma, Vergangenheit und Gegenwart, Ober- und Unterwelt ineinandergreifen. Der Film zeigt aber auch, dass es über die Verbindungen, die zwischen diesen Elementen bestehen oder auch nicht bestehen, unterschiedliche Auffassungen gibt. Sie zeigen sich als mal intakt, mal unterbrochen oder gar abgerissen. Als Arthur unterhalb eines in Bau befindlichen Wärmekraftwerks ein etruskisches Heiligtum mit einer vollständig erhaltenen „Göttin der Tiere“ findet, wechselt die Perspektive in das Innere der Grabkammer. Es ist stockdunkel. Vereinzelt sind Tropfgeräusche zu hören. Kurz darauf wird der Kybele ihr wunderschöner Kopf abgeschlagen.
Eine Art „Volkserzählung“
Die Kritik von Rohrwacher am rücksichtslosen Fortschrittsglauben, an Monetarisierung und dem Verlust von Spiritualität ist in sinnliche Bilder gekleidet, die in ihrer archaischen Anmutung gleichermaßen erdnah wie magisch sind. Wobei „La Chimera“ ornamentaler wirkt als der Vorgängerfilm. Es gibt ein Spiel mit Geschwindigkeiten, die kommentierenden Lieder, den Flair des Abenteuerfilms. Der Tonfall der Ermahnung ist Rohrwacher fremd, vielmehr setzt sie dem Verlust ihre ganz eigene Version einer „Volkserzählung“ gegenüber. Unterschiedslos liebevoll ist der Blick auf die Figuren; selbst Spartaco, eine schillernde Schweizerin, die nicht davor zurückschreckt, den aktuellen Fund als „neue Venus von Milo“ anzupreisen, steht dem Reich der Legenden näher als den Realitäten des Kunstmarkts.
Für Italia sind die in den Gräbern ruhenden Dinge nicht für die Augen der Menschen bestimmt. Den „Tombaroli“ wirft sie vor, Seelen zu bestehlen. Bei aller Achtung für die Geschichte und Vorzeit steht sie aber, anders als Arthur, der von der Vergangenheit nicht ablassen kann, mit beiden Füßen im Jetzt – mit Blick auf die nähere Zukunft. In einem verlassenen Bahnhofsgebäude, das sie besetzt hat, stellt sie mit anderen Frauen und Müttern eine matriarchale Kommune auf die Beine – und knüpft damit auch an die alten Etrusker an, von denen es einmal heißt: Wären sie noch am Leben, gäbe es in Italien vielleicht weniger Machismo.