Vorstellungen
Leider gibt es keine Kinos.
Filmkritik
Mit kurzem, bestimmtem Blick entscheidet der Naturheilkundler Jan Mikolášek (1889-1973) über den Gesundheitszustand seiner Patienten. Dafür müssen sie nicht einmal anwesend sein; ihm genügt eine Urinprobe, die er in einem Glasbehälter gegen das Licht hält. Es ist das Jahr 1957; die tschechoslowakischen Tageszeitungen berichten vom Tod des Präsidenten Antonín Zápotocky.
Durch die Veränderung in der Führung des kommunistischen Regimes gerät Mikolášek, der bislang von der Duldung der Regierung profitierte, ins Visier der Behörden. Mit seinen eleganten Anzügen, der großzügigen Villa und einem US-amerikanischen Wagen wirkt der ältere Mann keineswegs wie ein versponnener Esoteriker, eher wie ein erfolgreicher Unternehmer. Den stalinistischen Funktionären ist er nicht nur deswegen ein Dorn im Auge. Sie stört vor allem, dass die einfachen Leute auf sein Urteil vertrauen und lange Wartezeiten auf sich nehmen, um von ihm zur Visite empfangen zu werden. Zudem lebt Mikolášek allein mit seinem jungen Assistenten, ein Umstand, der für feindselige Spekulationen sorgt.
Schon bald wird der Heilkundler vor der geplanten Verfolgung gewarnt. Ein Beamter will sich so für die Rettung seines Lebens revanchieren. Doch Mikolášek reagiert kühl und indifferent. Eine Notwendigkeit zur Flucht ins Ausland sieht er nicht. Die Warnungen der Angestellten schlägt er in den Wind. Er sei da, um zu heilen, wie er mehrfach betont. Dennoch irritiert sein Verhalten, das von etwas anderem getrieben zu sein scheint als von der Sorge um das Wohlergehen der Patienten. Herrisch diktiert er seinem Assistenten Daten und Anweisungen während der Visite. Und auch seine eigene Schwester demütigt er jedes Mal, wenn sie ihn um Unterstützung anfleht.
Eine zwiespältige Figur
Die Regisseurin Agnieszka Holland widmet sich nach dem Porträt des walisischen Journalisten Gareth Jones in „Red Secrets“ (2019) erneut der Biografie eines Mannes, der mit der stalinistischen Diktatur in Konflikt gerät. Historische Quellen dienen als Ausgangspunkt für die Erkundung eines schillernden Charakters und seiner widersprüchlichen inneren Dynamiken. In Rückblenden offeriert der Film schon früh ein Trauma, das Mikolášek für sein Leben prägt: Im Ersten Weltkrieg wird er als junger Soldat mit zwei anderen zur Erschießung eines Gefangenen beordert. Als der Delinquent um sein Leben fleht, verweigert einer der Soldaten den Befehl und wird kurzerhand selbst erschossen. Von dessen Blut aus nächster Nähe getroffen, feuert Mikolášek bis zur Besinnungslosigkeit auf sein Opfer. Eine gewaltvolle Sekunde, die über Leben und Tod entscheidet und sich als tiefe Ohnmacht in ihn einprägt.
Nach einem missglückten Suizidversuch kehrt der junge Soldat nach Hause zu seiner Familie zurück. Seine Eltern führen eine Gärtnerei, und für eine Weile sucht er seinen Lebenssinn in der Erkundung von Pflanzen.
Eine seltsame Gabe offenbart sich, als Mikolášek entgegen einer ärztlichen Diagnose seine schwer erkrankte Schwester durch eine Kompresse aus Kräutern heilt. Er geht bei einer alten Einsiedlerin in die Lehre, die ihn in der Uroskopie unterweist. Die Harnschau galt von der Antike bis zur frühen Neuzeit als eine bedeutende Methode der medizinischen Diagnostik. Spätestens im 19. Jahrhundert wurde sie jedoch, abgelöst von der analytischen Wissenschaft, als Scharlatanerie eingestuft, was ihrer volkstümlichen Beliebtheit aber lange keinen Abbruch tat.
Alternative Heilkunde nicht gleich Widerstand
Holland zeigt mit spürbarer Faszination, welchen Stellenwert der Glaube an die Naturheilkunde während des kommunistischen Regimes in Osteuropa für viele Menschen hatte. Sie wurde im Schulterschluss mit dem Katholizismus als gemeinsame Gegenwelt zur instrumentellen Vernunft der Politik praktiziert. Die Inszenierung bleibt den alternativen Behandlungsmethoden gegenüber durchaus kritisch und setzt diese nicht automatisch mit Widerständigkeit gleich.
Das zeigt sich vor allem an der Janusköpfigkeit, mit der die Hauptfigur entworfen wird. Es ist zwar dokumentiert, dass Mikolášek den angehenden Präsidenten Zápotocky nach seiner Befreiung aus dem KZ Sachsenhausen geheilt hat; Quellen berichten aber auch von seinen Kontakten zu hochrangigen NS-Funktionären, darunter dem Hitler-Vertrauten Martin Bormann. Mikolášek treibt weniger eine konkrete politische Überzeugung als vielmehr kompromissloser Opportunismus an.
Immer deutlicher wird, dass der berühmte Scharlatan von der Beherrschung der Grenze zwischen Leben und Tod fasziniert ist und dessen sadistische Ausbrüche sein kontrolliertes Auftreten erschüttern. Obgleich Holland das Kriegstrauma als prägend herausstellt, konzentriert sie sich weniger auf eine psychologische Innenschau der Hauptfigur als auf deren vielfältige Verstrickungen in die Machtverhältnisse ihrer Zeit.
Auch die homosexuelle Beziehung zu seinem Assistenten Palko macht auf interessante Weise Mikolášeks Zerrissenheit deutlich. Immer wieder wechseln sich Momente der Ausgelassenheit und der Intimität zwischen den beiden mit der Grausamkeit des Heilpraktikers, die nach Jahren der Vertrautheit in einem schweren Verrat kulminiert.
Eine unheilvolle Allianz
„Charlatan“ lebt von der Ambivalenz der Gefühle, die durch das erratische Verhalten Mikolášeks zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus gelingt dem Film eine spannende Reflexion über die unheilvolle Allianz von Heilkunde, Macht und Glaube.