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Filmkritik
Unruhige Bewegungen, aus Schuld geboren: „Captain Volkonogov Escaped“ von Natascha Merkulowa und Alexej Tschupow verwandelt die Sowjetunion des Jahres 1938 in einen Limbus der Verzweiflung. Stalin lässt seinen Geheimpolizeichef Nikolai Jeschow tatsächliche und vermeintliche Feinde des Staats jagen; selbst die treusten Diener der Macht können der großen Säuberung zum Opfer fallen. Menschen verschwinden und hinterlassen unheilvolle Leerstellen. Paranoia verzerrt den Blick, Freund und Feind lassen sich kaum mehr unterscheiden. Das Chaos verwandelt jede Handlung in einen Ausbruchsversuch. Der russische Thriller ersetzt die übliche Genre-Jagd nach einem MacGuffin mit der nach einem besonders raren Gut: Erlösung.
Denn die Toten lassen Captain Fjodor Wolkonogow (Juri Borisow), einem jungen Agenten der Geheimpolizei, keine Ruhe. An einer Stelle wühlt sich sein verstorbener Kamerad Kiddo Weretennikow (Nikita Kukuschkin) zuckend aus der Erde, stellt Fjodor die Höllenqualen vor Augen, die er und andere tote Kameraden im Jenseits als Strafe für ihre Taten erleiden, und fordert Wolkonogow auf, seine eigene Seele zu retten: Er soll bei den Hinterbliebenen ihrer Opfer Absolution für Mord und Folter der Liebsten erbitten. Und sei es nur eine einzige verlorene Stimme, die ihre Seele reinwäscht.
Wo alle sich zum Täter berufen fühlen, werden alle zum Opfer
So hetzt Wolkonogow, der längst selbst ins Visier seiner eigenen Behörde geraten ist, durch die grauen Gassen-Labyrinthe von Sankt Petersburg, die durch das blasse Licht immer aussehen, als läge Rauch in der Luft. Er wird gejagt: Der Major Golownja (Timofei Tribunzew) ist hinter ihm her. Doch auch der Major selbst ist in Gefahr. Nicht nur kämpft er mit einem schweren Lungenleiden, auch sein Oberst setzt ihn unter Druck. Er spürt den Stahl, mit dem er selbst viele Menschen hingerichtet hat, am eigenen Hinterkopf. Wo alle sich zum Täter berufen fühlen, werden alle irgendwann Opfer.
Das Regieduo inszeniert die Stadt als Vorhölle aus Trümmern und Kälte. Die Kamera lugt vorsichtig hinter Objekten hervor. Sie zittert und wackelt dabei, als wäre sie selbst von dem Verfolgungswahn der Epoche angesteckt worden. Alles wirkt trostlos, verfallen und seltsam artifiziell, wie erträumt oder aus einer alten Erinnerung hervorgekramt. Räume werden durch die Montage in Beziehung zueinander gesetzt, aber eine vollständige, bewohnbare Landschaft entsteht aus diesen versprengten Fragmenten nie. Die Originalschauplätze muten deshalb museal und kulissenhaft an, dem Gespenst eines Ortes gleich. Ein wenig so, wie Alexander Sokurow die Eremitage in einen Nexus der russischen Geschichte verwandelte. Wie bei „Russian Ark“ pendeln die Bilder zwischen Gegenwart und Vergangenheit.
Einerseits, weil Wolkonogow unentwegt von schmerzlichen Erinnerungen heimgesucht wird. Rückblenden zeigen das Ausmaß seiner Schuld. Folter- und Exekutions-Sequenzen verdeutlichen, dass Menschen auch im Stalinismus nicht einfach verschwinden. Ihre Körper sind widerständig, und in diesem Film sind es auch ihre Seelen.
Andererseits, weil anachronistische Setzungen eine allzu klassische Historienfilm-Bildsprache unterbinden. Rote Trainingsanzüge etwa, in denen sich die modischen Affinitäten der postsowjetischen Gopniks spiegeln. Auf der Suche nach der Gewalt und den Stalinismen der Gegenwart legt der Film, der 2021 erschien, im Jahr vor Russlands Invasion der Ukraine, die Verunsicherung der nationalen Vergangenheit als Folie über eine ebenso verstörte Jetztzeit.
Bewegungs- und Körperkino
Als Abbild einer zerklüfteten Volksseele dienen dabei Bilder voll von inneren Widersprüchen. Schon die erste Einstellung zeigt einen prunkvollen Ballsaal, in dem junge Geheimpolizisten ein Volleyballnetz gespannt haben. Martialische Ignoranz verdrängt den Geist einer glanzvolleren Epoche. Die Gewalt eines Systems keimt hier aus muskelverpanzerten Männerkörpern, die sich selbst bewahren wollen und die innere Unsicherheit auf äußere Feinde projizieren.
„Captain Volkonogov Escaped“ ist Bewegungs- und Körperkino. Szenen beginnen im vollen Lauf, endlose Tracking Shots bilden die Grundlage der Filmgrammatik. Die schiere Logistik der Mission, das Gehen, Rennen, Schleichen, Fahren, Suchen und Finden, ist wichtiger als jeder Plot.
Die starken Körper der Kämpfer sind allerdings nie Quelle von Lust und Stolz, sondern müssen mühsam instandgehalten werden. Major Golownja zieht in einer Zeitbombe durch die Welt. Wolkonogow stolziert anfänglich dahin wie eine menschgewordene Skulptur, von der immer noch ein wenig mehr Marmor geschlagen werden muss. Keine Situation, die nicht Raum für eine Trainingseinheit bieten würde. Selbst seine Foltermethoden haben etwas Artistisches – etwa, wenn zwei Männer auf einer Tür balancieren, unter der ein dritter zerdrückt wird. Eine finstere Zirkusnummer.
Die Paranoia des Totalitarismus
Seine imposante Körperlichkeit nutzt ihm bei seiner eigentlichen Mission jedoch wenig – es gibt keinen Muskel für Vergebung, sie lässt sich auch nicht mit Gewalt erzwingen. Ein ums andere Mal wird sein Flehen rüde zurückgewiesen, mit giftigen Flüchen, Fausthieben und vor allem betoniertem Unglauben. Die Wahrheit über den Tod der Gefangenen können die immer noch Hoffenden kaum ertragen. Niemand glaubt Wolkonogow, dass Unschuldige hingerichtet wurden. Ein Vater verleugnet lieber seinen Sohn als seine politische Ideologie. Die inhärente Paranoia des Totalitarismus verunsichert auch seine Subjekte, weil in letzter Konsequenz niemand sich selbst trauen darf. Nicht seinen Augen, nicht seinen Ohren, nicht seinem Verstand.
Ein Vorgesetzter wirft Wolkonogow einmal vor, er würde nicht dialektisch genug denken. Die Gefolterten wären offensichtlich keine Terroristen – für die gäbe es ja direktere Methoden – sondern lediglich unzuverlässige Elemente mit fragwürdigem Hintergrund. Stärker als eindeutige Feinde werden also Grenzfälle bekämpft. Die Unentschlossenen und Irrwandelnden. Jene, die mit ihren Zweifeln und Unsicherheiten die verborgenen Zweifel und Unsicherheiten der totalitären Ordnung und der verwundbaren Körper widerspiegeln. „Captain Volkonogov Escaped“ sucht genau nach diesen Zwischenstufen und Uneindeutigkeiten. Nach Menschen, die so sehr in den ideologischen Widersprüchen einer Zeit aufgehen, dass sie aus ihr herausfallen und in Zwischenwelten verlorengehen. Nach dem unruhigen Zucken einer Ordnung, die vergeht. Bewegung ist im Kino auch immer die Hoffnung, dass kein Bild ewig Bestand hat.