Vorstellungen
Filmkritik
Wäre dies ein konventioneller Hollywood-Film, so ließe sich die Handlung wie eine Kriminalgeschichte beschreiben: Jeffrey Beaumont kehrt nach einem Schlaganfall seines Vaters vom College in die Heimatstadt Lumberton, ein von der Holzindustrie lebendes Provinznest, zurück. Auf dem Weg in den Ort findet er auf einer Wiese ein menschliches Ohr, das er als braver Bürger in einer Papiertüte dem ihm flüchtig bekannten Polizeiinspektor überbringt. Durch dessen Tochter Sandy erfährt er ein paar mitgehörte Details der Ermittlungen. Offenbar hat das abgetrennte Ohr etwas mit der Nachtclubsängerin Dorothy Vallens zu tun. Jugendliche Neugier, angestachelter Spürsinn und der unbeschreibliche Sog eines fremden, geheimnisvollen Milieus veranlassen Jeffrey, in die Wohnung der Sängerin einzudringen und - im Kleiderschrank versteckt - auf genauere Hinweise zu warten. Er wird Zeuge einer schockierenden Vergewaltigung Dorothys durch einen rüden Perversen, dem Dorothy offenbar zwanghaft gehorcht. Er erfährt, daß der Mann Frank Booth heißt und Dorothys Mann und Kind in der Gewalt hat. Aus der Komplicenschaft mit Sandy entwickelt sich zaghafte Zuneigung, doch trotzdem kehrt Jeffrey wie unter Hypnose immer wieder in Dorothys Wohnung zurück. Als er sich schon unentrinnbar in die finstere Geschichte verwickelt sieht, muß er erkennen, daß Frank der Anführer einer Gang ist, die weder vor Rauschgifthandel noch vor Mord zurückschreckt und zu deren Helfershelfern auch ein leitender Polizeibeamter gehört.
Aber diese Handlung ist nicht der Film. So wie sich die Kamera in schier endloser Spirale in den Gehörgang des gefundenen Ohres hineinbohrt, so dringt David Lynch ("Eraserhead", "Der Elephantenmensch", "Der Wüstenplanet" unablässig in die Finsternis einer geheimnisvollen, von Gewalt und Perversion beherrschten Welt ein. "Blue Velvet" ist ein Film wie aus der Hexenküche des menschlichen Unterbewußten, zugleich eine bösartige Allegorie auf die Scheinwelt des Wunderlandes USA. Beginnend und endend mit absichtsvoll irritierenden Postkartenbildern der idyllisch heilen Provinz, mit leuchtenden Blumen vor dem Staketenzaun, wie ausgestopft wirkenden lächelnden und winkenden Menschen vor viktorianischen Mittelstandshäuschen, bohrt sich Lynch alsbald tief hinein in einen entsetzlichen Sumpf, der die schöne Kulisse aufs Grausamste Lügen straft. Jeffreys Vater ereilt der Schlag, als er sein Vorgärtchen bewässert. Er fällt, nach Luft ringend, auf den geliebten Rasen. Aber die Kamera verharrt nicht dort, wo gemeinhin die Abblende erfolgen müßte, sondern sie wühlt sich hinein in den grasbewachsenen Boden, immer tiefer unter die Halme und Äste, bis es schließlich wimmelt von Käfern und Ungeziefer. Dieses Dunkel beherrscht fortan den Film, und die reinen, klaren Jugendgesichter Jeffreys und Sandys verzerren sich mehr und mehr in der schrecklichen Befriedigung ihrer Neugier. Die amerikanische Idylle wird zum grauenhaften Albtraum. Man kann es nicht besser beschreiben als mit dem Ausspruch des Tonmeisters, den Lynch in einem Interview zitiert: "Es ist, als ob Norman Rockwell Hieronymus Bosch trifft." "Blue Velvet" ist ein Horrorfilm eigener Art. Während üblicherweise der Schrecken dadurch entsteht, daß in die uns geläufige Welt etwas Furchterregendes eindringt und der Horror sich aus dem unvermuteten Zusammenprall dieser Gegensätze konstituiert, ist es hier das neugierige, voyeuristische Herantasten der Hauptperson - und zugleich des Zuschauers - an etwas Unbekanntes, nur vage Erahntes, ist es die zwanghafte Begierde, dem vermuteten Grauen immer näher zu kommen. Und so vermischt sich der Horror des Erlebten mit dem Horror des eigenen Unterbewußten, nicht nur bei den Protagonisten des Films, sondern auch beim Zuschauer im Parkett. Ähnlich wie schon Lynchs frühere Filme, vor allem sein Erstlingswerk "Eraserhead", funktioniert auch "Blue Velvet" auf eine kompliziert doppelschichtige Weise: auf der Leinwand und im Kopf des Betrachters. Es ist eine Art Erkenntnisprozeß, brutal immer weiter getrieben in ekelhafte Regionen menschlicher "Unmenschlichkeit", dessen Schock so nachhallt, daß die zum Schluß wiederhergestellte "Ordnung" zum Gelächter herausfordert. Grauen und Zweifel verscheuchen jede vorstellbare Normalität.
Inmitten der aberwitzigen Gewalt- und Vulgärterminologie des Films gibt es eine Schlüsselszene, in der die Sehnsucht nach Erlösung formuliert wird. Jeffrey und Sandy halten mit dem Auto vor einer abendlich erleuchteten Kirche. Jeffrey berichtet (zurückhaltend) über die Erlebnisse in Dorothys Wohnung. Beide beschwören wie hypnotisiert die Faszination des Entsetzlichen: "Es ist eine seltsame Welt." Und dann erzählt Sandy einen Traum: "In dem Traum, da war unsere Welt, und die Welt war dunkel, weil es keine Rotkehlchen gab. Und die Rotkehlchen bedeuteten Liebe. Und ganz lange war da bloß diese Dunkelheit. Und plötzlich waren da Tausende von Rotkehlchen, und sie flogen herab und brachten dieses blendende Licht der Liebe. Und es schien so, als ob diese Liebe das einzige war, das eine Bedeutung hatte, und so war es." Ein Traum? Ein Traum. In der restaurierten Idylle des Schlusses, an die keiner mehr glaubt, hockt ein ausgestopftes Rotkehlchen auf dem Fensterbrett. Es hat einen zappelnden Käfer im Schnabel.