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Filmkritik
Antonio LeBlanc (Justin Chon) ist in Korea geboren, als Adoptivkind aber in der USA aufgewachsen. Inzwischen ist er über dreißig Jahre alt und mit der US-Amerikanerin Kathy LeBlanc (Alicia Vikander) verheiratet. Deren Tochter Jessie aus erster Ehe wurde von LeBlanc adoptiert. Kathy ist schwanger; alle freuen sich auf den Familienzuwachs. Und das, obwohl die Kasse knapp und man darauf angewiesen ist, dass die als Physiotherapeutin ausgebildete Kathy mitverdient.
Antonio hat zwar eine Ausbildung als Mechaniker hinter sich, war aber vor einigen Jahren an einem Motorraddiebstahl beteiligt. Seither findet er keine entsprechende Anstellung mehr und jobbt für wenig Geld in einem Tätowier-Studio. Die klammen Finanzen tun dem Familienglück aber keinen Abbruch. Kathy ist mit Antonio und Antonio ist mit Kathy glücklich. Er findet in der Beziehung jenen Halt, dem ihm seine Adoptiveltern nicht geben konnten. Abgesehen davon ist Antonio ein einfühlsamer Vater und wird von Jessie über alles geliebt.
Es droht die Abschiebung
Doch eines Tages kreuzen sich die Wege der Familie LeBlanc im Supermarkt mit denen von Kathys Ex-Mann, dem Polizisten Ace. Der hat die Trennung nie verwunden. Er ist eifersüchtig auf das junge Familienglück und auch darauf, dass Jessie zu Antonio eine engere Beziehung hat als zu ihm. Eine Bagatelle lässt die Situation eskalieren. Ace und sein Kollege Denny, die als Polizisten unterwegs sind, nehmen Antonio fest. Sie stecken ihn in Haft. Von da führt Antonios Weg direkt zur Einwanderungsbehörde.
Justin Chon spielt nicht nur die Hauptrolle, sondern er hat den Film auch inszeniert. „Blue Bayou“ ist im Umfeld der US-amerikanisch-koreanischen Community angesiedelt und wurde in und um Bâton-Rouge gedreht, der Hauptstadt von Louisiana. Die sogenannten „Bayous“, die Wasser- und Uferlandschaft der Region, sind für Antonio und Kathy Orte der Freude und des trauten Zusammenseins, an denen sie intime Gespräche führen oder im Dämmerlicht in die Nacht hineintanzen. In Momenten der Not und Verzweiflung werden die Bayous und ihre Deltas auch zu Zufluchtsorten, an denen man sich ungestört seinen Gefühlen hingeben kann, wobei das Wasser einen tröstlichen Ausweg zu bieten scheint.
Der Ausdruck „Blue Bayou“ meint in den US-Südstaaten aber nicht nur ein stehendes oder langsam fließendes Gewässer, das blau schimmert, sondern ist auch der Titel eines berühmten Songs von Roy Orbison und Joe Melson aus dem Jahr 1963. Dieser beschreibt „Blue Bayou“ als einen verlassenen Sehnsuchtsort, an den man zurückkehren möchte. Der Song hat sich als Ohrwurm in die Pop- und Filmgeschichte eingeschrieben und wird im Film auch während eines Festes von Alicia Vikander gesungen: ein bisschen zögerlich, zärtlich und sehnsüchtig, aber auch wehmütig und nicht zuletzt als Liebeserklärung an den Mann, den Kathy liebt, und von dem sie ahnt, dass sie ihn und damit auch das glückliche Leben, das sie zusammen führen, vielleicht bald verlieren könnte.
Keine Scheu vor dem Melodramatischen
Es ist ein bewegender Moment in einem Film, der viele bewegende, auch tränenselige Momente kennt. Die forcierte Inszenierung des Melodramatischen ist dabei Konzept und etwas gewöhnungsbedürftig, entspricht aber der unmittelbaren Art und Weise, wie „Blue Bayou“ sein Thema aus der Erlebnisperspektive der Protagonisten entfaltet: indem brennende Gefühle ungefiltert wiedergegeben werden.
Im Hintergrund spielt ein im Jahr 2000 eingeführtes US-Gesetz eine wichtige Rolle, der „Child Citizenship Act of 2000“. Das sieht vor, dass im Ausland geborene, aber in den USA lebende Kinder von US-Bürgern ebenso wie im Ausland geborene und von US-Bürgern adoptierte Kinder in den USA leichter eingebürgert werden können. Allerdings gilt das Gesetz erst seit seinem Inkrafttreten und ausschließlich für Personen unter 18 Jahren. Wer vor dem 27. Februar 1983 geboren wurde, muss nach der Einführung des „Child Citizenship Act“ seine Einbürgerung nachträglich beantragen. Das aber haben viele verpasst, unter anderem auch Antonio. In einer Einblendung am Schluss von „Blue Bayou“ werden die Namen und Porträts von Betroffenen gezeigt; die Rede ist von Tausenden.
Nach Antonios Verhaftung beginnen in „Blue Bayou“ die Mühlen des Gesetzes zu mahlen. Antonio und Kathy engagieren für viel Geld, das sie nicht haben, einen Anwalt. Im Gegensatz zu anderen Filmen, die bei ähnlicher Sachlage dann oft ins Juristische abdriften, lotet „Blue Bayou“ aber weiterhin primär die Gemütslage der Protagonisten aus und schildert meist aus der Sicht von Antonio die Zerreißprobe, der sich seine Familie ausgesetzt sieht.
Die Menschlichkeit wird mit Füßen getreten
Das von Justin Chon verfasste Drehbuch fußt auf realen Fällen und Ereignissen, die in die Biografie der Protagonisten eingeflossen sind. Vieles davon wird nur schlaglichtartig beleuchtet, als kleine Puzzlestücke, was etwas oberflächlich wirkt. Ein Nebenstrang um eine als Kind aus Vietnam in die USA geflüchtete Frau unterstreicht die Migrationsthematik und betont außerdem den politischen Aspekt des Films. Erzählerisch führt dieser Strang aber von Antonios persönlicher Geschichte weg, die für sich schon überfrachtet wirkt, weil seine frühkindlichen Traumata und seine Erlebnisse mit den übergriffigen Adoptiveltern miterzählt werden.
Die thematische Vielfalt findet in schnellen Handlungsabläufen und einer sprunghaften Erzählweise ihre Entsprechung, welche die Dringlichkeit des von Chon mit dem Gestus der Empörung Thematisierten unterstreicht, nämlich dass die Menschlichkeit mit Füßen getreten wird, wo Gesetze und Politik Menschen zwingen, jene Orte zu verlassen, die ihnen Heimat und Zuhause sind. Ganz offensichtlich geht es Chon darum, diese Ansicht mit Hilfe von „Blue Bayou“ laut und deutlich kundzutun.
Inszenatorisch wirkt „Blue Bayou“ wie ein bunter Strauß. Einzelne Szenen nehmen sich wie aus einem flinken asiatischen Kleinganoven-Thriller aus. Andere, ruhigere Momente verströmen die ruhige Distanziertheit eines Samurai-Films. Später klebt die bewegte Kamera hautnah an den Figuren, was an die jungen wilden Filme der Nouvelle Vague erinnert. Und nicht zuletzt geht es auf der Leinwand psychisch und physisch mitunter so brutal wie in einem düsteren US-Krimidrama zu, in dem Polizisten auf der falschen Seite agieren.
Direkt ins Herz
Mit seinem erzählerischen Potpourri ist „Blue Bayou“ so unterhaltsam, wie durch die Unmittelbarkeit seiner Gefühle erschütternd. Die Schauspieler drücken dem Film ihren Stempel auf. Alicia Vikander spielt Kathy körperlich intensiv und sehr emotional, Justin Chon weiß Antonio nicht nur als sympathischen Gatten und Vater, sondern als auch traumatisierten und zwischendurch auch zwielichtigen Mann darzustellen. In der Rolle von Jessie glänzt die 2012 geborene Sydney Kowalske als schauspielerndes Kind, das von der Kamera geliebt wird. Sie ist vielleicht sogar der wichtigste Grund, warum der Film, der davon erzählt, wie eine Familie brutal auseinandergerissen wird und in seiner dramatischen Übersteigerung mitunter hart an den Rand des Kitsches gerät, direkt ins Herz geht.