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Filmkritik
Francis hat seinen Arm und fast sein Leben verloren. Mieze alias Sonja hat es ihm gerettet. Sein Freund Reinhold wollte es ihm nehmen. Hat ihn aus dem fahrenden Auto gestoßen; Francis dafür bestraft, sich über die unwissentliche Beteiligung an dem Einbruch in ein Juweliergeschäft zu empören. Eva und ihre transsexuelle Partnerin Berta haben ihn zu Mieze gebracht. Im Krankenhaus, wo sie ihm den Arm abnahmen, konnte er nicht bleiben. Mieze arbeitet als Prostituierte. Gerade ist sie unterwegs, um Geld zu verdienen, und Francis allein in ihrer Wohnung. In einem Käfig piepst ein Vogel. „Zwei Vögel, gefangen in einem Käfig“, kommt es Francis über die Lippen.
Gefangen in einem Käfig
Man ist geneigt, diesen Moment als Schlüssel für „Berlin Alexanderplatz“ von Burhan Qurbani zu verstehen. Francis, aus Guinea-Bissau nach Deutschland gekommen, um frei zu sein, ist abermals eingesperrt. Döblins Roman und die filmischen Adaptionen von Phil Jutzi (1931) und Rainer Werner Fassbinder (1980) erzählen von einem Mann, Franz Biberkopf, der nach vier Jahren im Gefängnis in ein Berlin zurückkehrt, das ihm vertraut und fremd zugleich ist. Vier Jahre der rasenden Entwicklung seiner Stadt hat er verpasst. Was ihm widerfährt, sieht aus wie ein Schicksal, schreibt Döblin in einem kurzen Prolog. Schicksalhafte Begegnungen und Ereignisse machen ihn rückfällig, bringen ihn vom rechten Weg ab. Was Franz widerfährt, wird im Prolog bereits zusammengefasst.
Eine Adaption, die „Berlin Alexanderplatz“ in die Gegenwart holt, wird daran gemessen werden müssen, welche Aktualisierung der Protagonist erfährt und welche Rolle Berlin in seiner Geschichte spielt. Wird der zeitgenössische Franz ebenfalls von einer kriminellen Energie erfasst, die der Großstadt ihr Gepräge gibt, und nicht mehr davon losgelassen? Wie nachvollziehbar ist die Schicksalshaftigkeit dramaturgisch gebaut, und wie zwingend sind die Ereignisse, die dazu führen, dass ihm die Rechtschaffenheit nicht gelingt?
Schuld und Neuanfang
Burhan Qurbani und sein Co-Drehbuchautor Martin Behnke machen aus den neun Büchern, in die Döblin seinen Roman gegliedert hat, fünf Kapitel und einen Epilog. Wie Döblins Protagonist hat auch Francis Schuld auf sich geladen. Doch worin kann diese Schuld bestehen, bei einem Menschen, der sein Leben riskiert, um über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, weil die Heimat ihm keine Perspektiven mehr bietet? Die Auflösung wird über weite Strecken des Films hinausgezögert, in Rückblenden auf die Flucht über das Meer, wo die Handlung ihren Ausgang nimmt.
In Berlin landet Francis in einer Flüchtlingsunterkunft; er findet schnell Arbeit, illegal allerdings, Montagearbeiten am Alexanderplatz. Ein Unfall auf der Baustelle ist das erste Ereignis, das Francis auf die schiefe Bahn bringt. Plötzlich ohne Job, beginnt er für Reinhold zu arbeiten. Dessen Dealerkolonne in der Hasenheide versorgt er zunächst mit selbstgekochtem Essen. Bis Reinholds Boss Pums auf ihn aufmerksam wird. In einem Club lernt er Eva kennen, ihr gehört der Laden, sie hat etwas erreicht im Leben, auch wenn bei ihr Kriminelle ein- und ausgehen.
Homoerotische Untertöne
Dann kommt der Einbruch in den Juwelierladen. Es ist ein entscheidender Moment. Francis geht auf die Straße und streift die Maske vom Gesicht. Er will in die Straftat nicht hineingezogen werden. Dann blickt er zurück zum Tatort, wo Reinhold und seine Leute zugange sind. Ein Blickkontakt mit Reinhold, und Francis zieht die Maske wieder über und bleibt. Warum? Weil er in die Sache schon reingezogen wurde und sowieso nicht mehr herauskommt? Oder ist es die Freundschaft zu Reinhold, die ihn dableiben lässt? Eine Abhängigkeitsbeziehung, der er nicht mehr entfliehen kann?
Schon bei Döblin ist ein homoerotisches Verhältnis zwischen den beiden Männern angedeutet. Im Film wird es expliziter. Ist die groteske Körpersprache, mit der Albrecht Schuch die Figur des Reinhold ausstattet, Zeichen einer unterdrückten Homosexualität? Oder ist er doch in erster Linie ein Sadist, ein Verbrecher, den Schuch als unberechenbaren Psychopathen anlegt?
Machtmenschen – Genretypen
Ja, man kann Reinhold als Psychopathen betrachten und diejenigen, die Francis wohlgesonnen sind, sehen das auch so, nur eben Francis nicht. Welket Bungué spielt ihn etwas zu naiv. Später sagt Pums zu Francis: „Es ist nicht leicht, sich dem Teufel zu entziehen, wenn man ihn einmal zu sich eingeladen hat.“ Warum wird der Teufel aber eingeladen, wenn er so deutlich zu identifizieren ist? Joachim Król spielt diesen Pums, den es auch bei Döblin gibt, als stark typisierten brutalen Machtmenschen, dessen dämonische Gefährlichkeit ins Lächerliche abdriftet. Wird dem Film etwa die Genre-Dramaturgie des Gangsterfilms zum Verhängnis? Verliert Francis an Glaubwürdigkeit, weil er auf Typen hereinfällt, die nach Gangster- und Psychopathen-Klischees entworfen sind?
Döblins Franz Biberkopf ist ein einfältiger, ohne psychologische Tiefe gezeichneter Mann, der als ehemaliger Zement- und Transportarbeiter eingeführt wird. Zu Döblins Zeiten hatte so eine Figur vermutlich noch eine andere Relevanz. Sollte man sich Francis auch so vorstellen, als einen ungebildeten Mann, dem es vor allem auf die Behauptung seiner Männlichkeit ankommt, wie er Mieze gegenüber einmal wütend zum Ausdruck bringt? Ist dies ein Bild von Menschen aus Afrika, das die Gegenwart braucht? Und brauchen wir – neben dem bisschen queer, das der Film präsentiert – einmal mehr Frauenfiguren, die zwischen der Heiligen und der Hure angesiedelt sind?
Schillernd-trostloses Berlin
Das Bild von Berlin ist etwas vielfältiger. Qurhani und sein Team versuchen einerseits, das angeblich schillernde Berlin der späten Weimarer Zeit, das die Serie „Babylon Berlin“ comichaft überzeichnet, in die Gegenwart zu übersetzen. Schillernd ist dies aber nur in den Clubszenen; auf dem Alexanderplatz und in der Hasenheide herrschen hingegen die Trostlosigkeit von Baustellen und die Revierkämpfe rivalisierender Dealer-Kolonnen. Die Montagetechniken, die zum Ruhm von Döblins Roman entscheidend beigetragen haben und die Reizüberflutung der Großstadt zum Ausdruck bringen, werden hier weitgehend ausgespart. Stattdessen wird das eine oder andere Mal geschickt mit der Schicksalshaftigkeit gespielt, indem Flashforwards Blicke in die Zukunft gewähren, die mit der Gegenwartsebene verwoben werden. Die Figuren im Film haben ihr Schicksal nicht in der Hand.