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Filmkritik
Wie so oft bei überwiegend irreal angelegten, hinter- oder untergründigen Werken darstellender Kunst, ist es auch hier gewagt, einen durchgehenden "Inhalt" im Sinne eines Handlungsablaufs wiedergeben zu wollen, da solche Inhaltsangabe schon mit wirklicher - oder eben mit nur fiktiver - Handlung verwechselt werden könnte. In Bunuels Film ist aber eine Abgrenzung zwischen Wirklichkeit und Vorstellung, zwischen Vollziehen und Wähnen absolut nicht möglich, so wie Fantasie oder Traum ebenso wie Angst- und Wunschvorstellungen auch sonst von der übrigen Wirklichkeit praktisch nicht getrennt werden können. (Wäre eine logisch oder psychologisch exakte Trennung zwischen bewußter Realität und unbewußter Traumhaltung hier möglich, hätten wir es in der Tat mit einem primitiv-trivialen und unproblematischen Film zu tun, wie Bunuel noch keinen gemacht hat.) Ohne sich auf bestimmte Thesen festzulegen, erscheint Bunuels Film als der Befund, daß der "zivilisierte", industriekulturell hochgezüchtete Mensch unserer Tage, der "niemals erwachsen wird", zwischen Traum und Wunschvorstellung, Erinnerung (als Melancholie, Einbildung, Zwangsvorstellung) und Wirklichkeit (im Sinne angestrebter Erfüllung der Aufgabe gegen Umwelt und Gottwelt) in einem unbewußten, niederdrückenden Spannungsverhältnis befangen ist und nicht weiß um Inhalt und Funktion, um den persönlichen Sinn seines freien Daseins.
Da der Film ablaufende (wenn auch gebrochene) "Aktionen" hat, ist eine gewohnte Wiedergabe der Handlung (die also untrennbar auf den Ebenen der Realität und "Irrealität" liegt) noch möglich. Die stellenweise pointierte Ausführlichkeit der "Inhaltsangabe" beabsichtigt, dem Leser ein selbständiges Überdenken einzelner Vorgänge und Situationen zugunsten einer individuellen Gesamtbewertung des Films - und seines vorherrschenden Mißverstandenseins - zu erleichtern: Die 23jährige sensibel-kühle Severine ist mit dem jungen Chirurgen Pierre "gutbürgerlich" verheiratet. Nach außen sehen sie glücklicher aus, als sie zu zweit sind; Pierre, beruflich ausgefüllt und ehrgeizig, scheint die erotischen Mängel ihrer Beziehung leichter zu übergehen als seine Frau, die sich auch tagsüber langweilt, obwohl sie alles hat, "was man braucht". Sie trifft öfter ihre Freundin Renée, denkt viel an sie, besonders an deren Verhältnis zu dem zynisch-souveränen Husson, der infolge Wohlhabenheit und Übersättigung gegenüber Frauen abwegigen Gefühlen anhängt, auch auf Severine eine irgendwie magische Anziehungskraft ausübt. Er macht ihr eine Frau mit sexuellem "Doppelleben" interessant ("Henriette mit den zwei Gesichtern"), spricht von begehrenswerten Zügen der Frauen, die er für "absolut unterwürfig" erklärt, bis er ihr die Versuchung der Untreue geradezu suggestiv einredet ("Severine, eines Tages muß ich Sie einfach sehen, ohne Ihren Mann natürlich"). Schon vorher hat ihr Renée, die von Husson mit dieser Information offenbar gereizt wurde, befremdet davon erzählt, daß eine gemeinsame Bekannte, der man es auch nicht ansehe, stundenweise einer Tagesbeschäftigung nachginge, "wo man die Männer nehmen muß, wie sie kommen". Innerlich höchst verwirrt, sucht Severine hierüber weitere Aufklärungen bei ihrem Mann. Die Unsicherheit wächst, als ihr Mann dieses Thema ziemlich gelassen abtut und fast wie selbstverständlich zugibt, entsprechende Erfahrungen vor der Ehe (wenn auch "nicht oft") gemacht zu haben. Nach den Folgen solcher Erlebnisse befragt, erklärt er ihr nur, man fühle sich dann "für den Rest des Tages traurig". Ähnlich den Augenblicken gegenüber Husson, überkommt sie Neugier, das als Modesalon genannte Etablissement der Madame Anais zu sehen. Von der jungenhaft-forschen Erscheinung der Anais leicht fasziniert, fühlt sie sich auch ihr gegenüber fast gleichermaßen angewidert wie hingezogen. Doch ohne Begründung entflieht sie der Begegnung mit der ungeniert-rigorosen Unternehmerin "kultiviert" arrangierter Liebesdienste. Sie eilt zu Pierre, der es innerhalb seiner Dienstzeit auch nicht ausnahmsweise einrichten kann, mit ihr mittagzuessen. Nach einer Woche kommt Severine wieder. Mme. Anais spielt sich zunächst als Chefin, die nur "wohlerzogene Leute und gute Laune bei der Arbeit" verlangt, abweisend auf ("Ich dulde keine Amateurarbeit"), ohne ihre lesbischen Anlagen zu verleugnen. Derartige Demütigung stößt Severine jetzt nicht mehr unbedingt ab, zumal sie bei Mme. Anais ein seltsames, ihrer Erfahrung angepaßtes Verständnis für ihre Unsicherheit des Gefühls zu spüren meint. Verschiedene Abformen von Liebesäußerungen, durch "Alibis" in besseres Licht gerückt, erscheinen ihr nicht ohne weiteres als unglücklich oder gar verwerflich: sie wird hierdurch höchstens noch mehr irritiert; so auch durch die schnoddrig-selbstverständliche Erklärung einer Kollegin, sie tue dies nur für ihren Verlobten, der einen Unfall gehabt habe, deshalb nicht arbeiten könne und auch "davon" wisse. Selbst der abgetakelten Bordell-Fröhlichkeit eines manchmal gönnerhaft-gemütlich agierenden Industriellen ("Ich liebe das Leben und bin gern vergnügt!") setzt sich Severine wie ein betäubtes Opferlamm aus. Andere Stammgäste sind weniger sexuell-vulgär als erotisch abnorm, so ein dem Masochismus verfallener Professor, ein berühmter Frauenarzt, der jedesmal eine Peitsche und einen Zubehörkoffer mitbringt, um in der Rolle eines "ergebenen Dieners" seine Instinkte wie eine private Theaterprobe zu entwickeln; oder ein kolossaler Asiate, der den Anreiz zarter fernöstlicher Klänge herbeiruft. In dieser Umwelt wird nur der Frau Name respektiert, die bürgerliche Anonymität: Anais tauft Severine in "Belle de Jour" um, nach dem Namen der wuchernd-schönen Winden, die nur tagsüber ihre Kelchblüten zeigen. Die Magie des Krankhaften bleibt nicht begrenzt. Draußen wird die Schöne des Tages zur "Schönen des Schattens". Auf einer Gartenterrasse engagiert ein feudaler Herzog, der "noch Gefühle an den Tod hat" und in seinem Schloß, mit Dienern und Katzen, "Zeremonien religiöser Art liebt", Belle als Fetisch, in glasoffenem Sarg, mit Lilien- und Kerzenlicht, seine Verblichene zu mimen. Ein brutaler Gangster, dem sein spanischer Begleiter aus alter "Mannesfreundschaft" die zarte Belle überließ, verschmäht sie im letzten Moment, weil er einen Leberfleck nicht mag. Doch derselbe Liebhaber will sie schließlich Tag und Nacht besitzen, verfolgt sie in ihre Wohnung und wird auf der Straße von einem Polizisten erschossen, als er aus Eifersucht ihren Mann niederschießt. Pierre kommt aber durch und wird als Gelähmter liebevoll von Severine gepflegt, bis er plötzlich, wie von reiner Liebe geheilt, wieder völlig gesund aufsteht, als sei nie etwas Böses gewesen zwischen den ersten Stunden des Liebesglücks und der jetzigen. Auch Severine selbst erscheint geheilt: "Es ist komisch, seit Du Deinen Unfall hattest, träume ich nicht mehr." Solche Handlung könnte mancher als Liebesmärchen, Gangsterballade, Grusel- und Kurtisanengeschichte, Tragödie und Happy-End, alles in einem, auffassen. Bunuels Stil fordert solche Eindrücke potenziert heraus. Was hiervon als wirklich oder nicht wirklich geschehen angesehen werden mag, darauf kommt es ihm nicht an. Bunuel genügen die Schwächesymptome der ermöglichten Versuchung, die seelischen Anfälligkeiten gegen Störungen (und Zerstörung) eines institutionell und gewohnheitlich nicht abzusichernden Glücks. Zwiespältig kennzeichnet er das geübte Überhören von Gewissensbissen und den konsequenten Weg zur Sühne. Er zeigt den labilen Menschen, der keine geistig-seelische Ordnung und Sicherheit erreicht, weil er keine beständige Zu-Ordnung (in Glaube, Liebe, Ehe) zu erfüllen vermag. Das könnte wie Beweisführung für totale Anarchie aussehen, wie Hohn auf menschliche und daher auch göttliche Liebe. Doch vielleicht ist diese Skepsis gegenüber der disharmonischen Menschenwelt im Grunde jener extremindividuelle Humanismus, den Bunuel mit ironischen und zynischen Mystifikationen verpackt. Der 67jährige Ex-Spanier erweist sich als der revolutionärste Dadaist unserer Tage, indem er mit surrealistischem Geist in realem Gewande gewohnte und verbrauchte Lebensweise Mithilfe vertrauter Formen des Trivialkinos dort seziert, wo Menschen in Überfluß, Gewöhnung und Langeweile sich täuschen lassen, sich selbst täuschen und entfremden, wo Erotik zur überperfektionierten Konsumware mißbrauchter Freizeit und Freiheit herabsinkt, und wo geistwidrige Sexualität die Würde des Menschen unter das - normale - Niveau primitiver Tiere herabdrückt (denn Tiere können nicht anders verkehren als immer nur den Gaben ihres Instinkts gemäß). Diese seelischen Existenzschwierigkeiten des Menschen beschreibt Bunuel seit 40 Jahren in ständig erneuerter Form. Die widersprüchliche Wirkung dieses Films liegt auch an der surreal-symbolischen Funktion des Tons. Glocken beziehen in der romanischen Filmtradition oft einen zentralen Stellenwert. In einem älteren, idealistischen Film über die unzerstörbare Kraft der Menschenliebe läßt Carné "Die Nacht mit dem Teufel" einmal den Teufel sagen: "Zum Teufel diese Glocken! Ein Mensch ist gestorben, gut, aber ist das ein Grund, Lärm zu machen?" Im Bunuel-Film spielen Glocken eine mehr dimensionale Hauptrolle nicht nur leitmotivischer Bedeutung; sie erklingen immer wieder an Kernpunkten: Glocken als romantisches Attribut einer zeitfernen (zu Beginn des Films, als die "Träume" kommen, besetzten, am Ende als die "Träume" abfallen, verlassenen) Kutsche; Glocken der Weihe als Signal der intimsten Vereinigung mit Gott beim Opfermahl; Glocken als stimulierendes Instrument beim Mißbrauch intimster, nur-körperlicher Vereinigung. Wie im Carné-Film die Glocken zunächst an den Tod Überdauerndes erinnern und somit für den Teufel Ärgernis sind, so zeigt Bunuel eine schockierend extreme Skala ihres "Gebrauchs", vor allem die Entleerung und Verkehrung ihrer sakralen Bedeutung. Auf diese Weise verzichtet Bunuel weitgehend auf psychologisch oder soziologisch schlüssige Darstellungen, unterläßt sogar jede übliche, deduktive Schilderung von Charaktereigenschaften, um die Situation und ihre Bedingungen nicht als Einzelfall gelten zu lassen. Dadurch entstehen natürlich für viele Betrachter unkontrollierbare Gefahren einer unbegrenzten Verallgemeinerung, für andere aber auch therapeutische Möglichkeiten.