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Filmkritik
Auf die Frage, ob er sein Auto aus dem Weg fahren könnte, blickt der auf dem Bordstein sitzende Mann völlig entgeistert drein. Offensichtlich versteht er nicht ganz. Ein Auto besitze er nicht, so die wahnwitzige Antwort. Dabei hat er seinen Wagen gerade gegen die Hauswand gefahren und ist wie in Trance ausgestiegen. Ein Moment wie ein Augenschlag, vergangen und vergessen.
Diese Szene zu Beginn reduziert den unheimlichen Witz von „Apples“ auf seine Essenz: Von einem Moment auf den anderen ist alles weg, der Faden gerissen, das Selbst ins Leere gestürzt. Das eigene Auto ist fremd geworden, der Ort ein Unort, ein Nirgendwo. Wie eine Pandemie breitet sich in Athen ein mysteriöser Gedächtnisverlust aus, der jede Erinnerung für immer löscht. Von einer Sekunde auf die andere wissen die Menschen nicht mehr, wer sie sind.
Das Hier und das Jetzt
Auch Aris (Aris Servetalis) ereilt dieses Schicksal. Vom Busfahrer darauf aufmerksam gemacht, dass man bereits die Endstation erreicht habe, zeigt er sich irritiert. Wohin er eigentlich wollte und wo er wohnt, weiß er nicht mehr. Alles, was bleibt, ist das Hier und Jetzt. Es gibt zwar noch eine Bedeutung, aber keinen Sinn mehr. Polizei und Notarzt finden keinen Hinweis auf Aris Identität; er trägt keinen Ausweis bei sich. Also bleibt nichts anderes übrig, als ihn ins Krankenhaus zu bringen.
Die Tests verlaufen wenig vielversprechend, und Angehörige suchen auch nicht nach ihm. Aris wird zu einem Verlorenen, einem Menschen, der in der Gegenwart gestrandet ist. Bleibt also nichts weiter als das Warten auf Godot?
Die Ärzte schlagen ein neuartiges Integrationsprogramm vor: Aris soll seine Erinnerungen wieder mit Ereignissen auffüllen und sich eine Geschichte geben. Denn nur mit einer Geschichte gibt es etwas Kommendes, auf das es sich zu warten lohnt. Mit einer Polaroidkamera soll er sich ins Leben stürzen. Auf Hörkassetten erhält er bisweilen vollkommen abstruse Handlungsanweisungen. Einmal soll er sich das Fahrrad eines Fremden ausleihen; das führt dazu, dass er auf einem Kinderfahrrad über den Spielplatz fährt. Ein anderes Mal soll er ein Auto gegen einen Baum setzen.
Ein Horrorfilm im Kino
Jede Aufgabe, die gelöst wurde, wird fotografisch festgehalten und in ein Fotoalbum geklebt. Diese Episoden sind surreal-lakonische Momente, denen immer auch eine Einsamkeit innewohnt: Aris ist allein und einsam. Lassen sich so Erinnerungen bauen?
Dann allerdings lernt Aris beim Besuch eines Horrorfilms im Kino die ebenfalls an ihren Erinnerungen arbeitende Anna (Sofia Georgovassili) kennen. Sie bittet ihn, ihr bei den Aufgaben behilflich zu sein. Zwischen den beiden Verlorenen entsteht eine Bindung; es bahnt sich eine Beziehung an. Dennoch bleibt ein kühler Abstand. Aris scheint eine Schwere mit sich herumzutragen, die er selbst kaum begreift. Oder will er nur ausweichen? Will er sich selbst vergessen?
Es ist diese fein austarierte Atmosphäre zwischen absurder Komik und abgründiger Tragik, die „Apples“ so einzigartig macht. Jeder Witz berührt Trauer und Schmerz, und jede Verletzung ist auf dem Kipppunkt zur Pointe angesiedelt. Gerade weil Aris und Anna keine Tiefe zu besitzen scheinen – anscheinend gibt es nichts mehr, was sie als Personen ausmacht –, wirken die künstlich produzierten Handlungen wie lächerliche Turnübungen, die aber auch unseren alltäglichen Verrenkungen den Spiegel vorhalten. Gehe in eine Bar, betrinke dich und habe Sex mit einer Person auf der Toilette. Als ob das so einfach wäre, wie eine bloße Aktion, vergleichbar dem Aufbau eines Regals. So als läge die Magie solcher allzumenschlicher Eskapaden im bloßen Vollzug.
Wer ist Batman?
Das aber ist nur die halbe Drehung von „Apples“. In einer erstaunlich beiläufigen und dennoch ungemein tiefgründigen Szene soll sich Aris auf einer Kostümparty amüsieren. Verkleidet als Astronaut, in einem erstaunlich realistischen Kostüm, sieht man ihn vor einem Notarztwagen stehen. Der Sanitäter kümmert sich um eine Person, die offenbar ihr Gedächtnis verloren hat. Ob jemand Batman kenne, wird gefragt. Was für eine absurde Doppelung. Wer ist die Maske und wo ist die wahre Identität? Ist Bruce Wayne nicht Batman und Batman …? Man verliert sich in einer endlosen Kette. Wer wird Aris also gewesen sein? Die Maske, die er sich mit Polaroid-Bildern ins Album klebt? Oder das, was irgendwo im Körper oder der Seele schlummert?
Aufgrund der kargen Versuchsanordnung von „Apples“ ist man fast verleitet, den Ausdruck „kafkaesk“ zu bemühen, nur um dann doch im Hoffnungsschimmer aufzugehen. Ebenso fühlt man sich an die Ästhetik von Yorgos Lanthimos erinnert. Auch Christos Nikou greift in der Inszenierung von „Apples“ auf eine Reduktion zurück, in der die psychische Verfasstheit der Figuren allerdings nie ganz aufzugehen scheint.
„Apples“ ist, wenngleich wesentlich wärmer und weniger künstlich überhöht, eine Art Zwillingsfilm oder eine Variation von „Alpen“, in dem Yorgos Lanthimos amateurhafte Schauspieler die Angehörigen von Trauernden spielen lässt. Die Frage, die bei „Apples“ im Raum steht, dreht sich aber um den Zusammenhang von Leben und Rolle(n). Was bleibt, wenn wir die Erinnerungen für unser Selbst nachbauen?
Momente der Irritation
Regisseur Christos Nikou webt überdies immer wieder Momente der Irritation mit ein, die leisen Zweifel säen. Aris scheint vergessen zu wollen. Als der Obsthändler von der positiven Wirkung von Äpfeln auf das Gedächtnis berichtet, werden fortan immer Orangen verspeist. Als der Hund des ehemaligen Nachbarn angelaufen kommt, wird plötzlich dessen Name gewusst.
Mit diesem Kniff verschiebt sich diese existenzielle Farce ins Politische: Könnte der Grund dieser Pandemie nicht im sozialen Gewebe der Gesellschaft liegen, in der immer mehr Druck auf die Individuen abgewälzt wird? Werden wir nicht zunehmend auf eine Funktion reduziert? Aris könnte ein moderner Bartleby sein, der in Herman Melvilles schmaler Erzählung die Ordnung durcheinanderbringt, weil er eine radikale Form der Passivität ausübt: „Ich möchte lieber nicht.“ Schreiben oder Erinnern – es ist eigentlich gleich.