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Filmkritik
Lucas (Jeremy T. Thomas) lebt mit Monstern zusammen. Auf dem Schulweg sammelt er Tierkadaver, die er zu Hause zerteilt und auf den Dachboden bringt. Eine mehrfach verriegelte Tür trennt die obere Etage von dem Teil des Hauses, in dem der Junge lebt. Das wilde Tier, das wieder und wieder an der Tür kratzt, ist sein Vater Frank (Scott Haze), der kleine Junge, der vor Hunger wimmert, ist sein kleiner Bruder Aiden (Sawyer Jones). Das rohe Fleisch ist Lucas’ Versuch, das Monster zu kontrollieren, das einmal sein Vater war, und das Wimmern des Bruders zum Schweigen zu bringen, das er Nacht für Nacht mit Kopfhörern zu übertönen versucht.
Das eigentliche Monster aber, das in „Antlers“ hinter der verschlossenen Tür lauert und langsam Richtung Tageslicht und damit in Richtung der kleinen Gemeinde vordringt, heißt Missbrauch: der Missbrauch des Ökosystems, der in der kleinen Bergbaustadt noch deutlich sichtbar ist; der Drogenmissbrauch, der die Kreaturen auf dem Dachboden mit geschaffen hat, und der Kindesmissbrauch, der all diese Probleme überschattet.
Zwischen Trauma und Tragödie
Auch Julia (Keri Russell) und ihr Bruder Paul (Jesse Plemons) sind diesem Monster namens Missbrauch in ihrer Kindheit begegnet. Erst kürzlich ist die junge Lehrerin aus Kalifornien in ihr ehemaliges Elternhaus zurückgekehrt, das der Bruder noch immer bewohnt, der mittlerweile der Sheriff der Kleinstadt ist. Ihr Vater, der beide misshandelte, bis Julia in einen anderen Bundesstaat floh, ist erst vor Kurzem gestorben.
Julias Versuch, in der Heimat das eigene Leben neu zu beginnen, wird dadurch kaum leichter. An der Ladenkasse drängt sich das Schnapsregal noch immer ins Blickfeld, und in der Schulklasse blickt sie in teilnahmslose Gesichter. Der Neuanfang in der Heimatstadt ist nicht der reibungslose Erfolg, den sie sich erhofft hatte.
Julias fortwährender Kampf mit dem Trauma ist die realweltliche Spiegelung des Schreckens, den ihr Schüler Lucas im Unterricht auf seinen Block kritzelt. Die Schule bleibt die einzige Institution, die dem Jungen noch einen Schutzraum bietet, obwohl sie seine Lebenssituation genauso ignoriert wie Paul, der als Sheriff die Staatsgewalt repräsentiert, aber letztlich so machtlos wie desillusioniert ist.
Julia ist die Einzige, die Lucas’ Bilder als überdeutlichen Hinweis auf die traumatischen Lebensumstände des Jungen erkennt und ihn vor den Monstern zu beschützen versucht, die darauf abgebildet sind.
An gesellschaftskritische Ambitionen gefesselt
Das künstlerische Schaffen des Jungen ist allerdings sehr bezeichnend für die Probleme des Films: Die Zeichnung erscheinen zu elaboriert; es sind expressionistische, mit kunsthistorischem Verständnis gemalte Bilder, nicht Ausdruck einer kindlichen Gefühlswelt. Auch wenn man dem Jungen wieder und wieder beim Malen zusieht, scheinen seine Bilder nie einen inneren Prozess wiederzugeben, sondern immer das Ende eines langen Reflexionsprozess darzustellen. Mit „Antlers“ verhält es sich genauso. Es ist ein Film, dessen Genre-Instrumentarium so sehr an die gesellschaftskritischen Ambitionen gefesselt ist, dass es kein Eigenleben entfalten kann.
Scott Coopers Horrorfilm nach der Erzählung „The Quiet Boy“ von Nick Antosca stellt seine Kreatur ganz ans Ende der langen Kausalitätskette kapitalistischer Sünden, die es in die Welt gebracht haben. In einem stillgelegten Kohlebergbau, vor dem die Wildnis Oregons noch immer zurückweicht, werden Lucas’ Vater Frank und sein Bruder Aiden zu Monstern. Der Vater kocht hier Methamphetamin, das berüchtigte Crystal Meth. Kurz nachdem Aiden als zerfetzte Leiche in den Wäldern gefunden wird, kehren Vater und Sohn als Monster in ihr Familienhaus zurück.
Ein tieftrauriger Film
Nahezu alle gesellschaftlichen Traumata der USA, geplünderte Ökosysteme, Meth-Labore, Kindesmissbrauch, der Rückzug staatlicher Institutionen und die Opioid-Krise, lauern auf die ein oder andere Art in diesem tieftraurigen Film. Eine thematische Streuung, die sukzessive das trennt, was „Antlers“ zu bündeln versucht: Gesellschaftsdiagnostik und das gehörnte Monster.