- RegieKati Thiemer
- Produktionsjahr2018
- Dauer66 Minuten
- GenreDrama
- Cast
Vorstellungen
Leider gibt es keine Kinos.
Filmkritik
Zunächst glaubt man in der Figur der Anna eine entfernte Verwandte von Mona zu erkennen, jener obdachlosen Vagabundin aus dem Drama „Vogelfrei“ (1985) von Agnès Varda; die zog immer weiter, wenn sie das Zusammensein mit anderen einzuengen begann. Mit dem Unterschied, das Annas Spielfeld nicht die Provinz, sondern die Großstadt ist, ein Berlin der vielen Möglichkeiten, in dem sie ungestört in einem Park übernachten kann, wo die Mülltonnen genug Essen zu bieten haben und sich der Tag in einer endlosen Straßenbahnfahrt im Biernebel verdämmern lässt.
Aber warum nur zitiert Anna mit theatererprobter Stimme aus dem Off unentwegt Gedichte von Goethe, die von seelischem Schmerz handeln und der Unmöglichkeit einer gelingenden Bindung zur Welt? Als sie nachts in einem Kiosk auf eine einsame Bibliothekarin trifft, finden sich im Weinrausch zwei verwandte Seelen, die Sturm-und-Drang-Texte von Goethe und Schiller austauschen und auch eine Liebesnacht miteinander verbringen, die Anna am nächsten Morgen aber unerwartet brutal beendet. Da ahnt man, dass es Gründe geben muss für ihr selbstzerstörerisches Verhalten, ein Trauma, das ihr Inneres nicht zur Ruhe kommen lässt.
Wie ein verwundetes Tier
Die 1982 geborene Regisseurin und Hauptdarstellerin Kati Thiemer gönnt sich viel Zeit, bis sie mit der Wahrheit herausrückt. Sie lässt ihre Figur herumirren, betrunken und ängstlich, wie ein verwundetes Tier, das die ambitioniert dokumentarische Kamera umkreist, nur um es im Lichtermeer der Straßen wieder aus den Augen zu verlieren. Irgendwann steigt Anna durch ein Fenster in eine scheinbar fremde Wohnung. Der Bewohner entpuppt sich als ein Kindheitsfreund, der sie im Stich gelassen hat. Er sperrt sie in einem Zimmer ein und erzwingt so einen Alkoholentzug. Anna ist dankbar, zögert aber, sein Hilfeangebot anzunehmen. Zu Recht, denn seine sanfte Art entpuppt sich als Lockmittel für einen sexuellen Übergriff, der die alte Wunde eines jahrelangen Missbrauchs in schwarz-weißen Rückblenden an die Oberfläche bringt. Beide waren in ihrer Kindheit in einem Heim untergebracht.
Annas Mutter, die ihr Goethe vorlas, war früh verstorben. Ihr folgte die Großmutter als einzige Verwandte. Der Leiter zwang sie zu sexuellen Gefälligkeiten und genoss es, die Kinder mit „Zuckerbrot und Peitsche“, wie es Anna einer Journalistin schildert, gefügig zu machen. Da hat sie bereits Anzeige gegen den Leiter und ihren zum Täter mutierten Leidensgenossen erstattet. Dazu geraten hat ihr die Bibliothekarin, deren Nähe sie in ihrer Verzweiflung wieder suchte. Die letzten Aufnahmen zeigen die beiden erleichtert, bereit für eine gemeinsame Zukunft.
Ein allzu plötzliches Happy End
Auch wenn man der gebeutelten Hauptfigur diesen Schlussakt wünscht, wirkt ihre Genesung nach all den Abstürzen und erneut erlebter Gewalt etwas plötzlich. Die Journalistin bekommt eine fertige Selbstanalyse präsentiert, als hätte Anna bereits eine jahrelange Therapie hinter sich, in der sie ihr „Liebesverhältnis“ zum Heimleiter in allen Ambivalenzen verarbeitet hätte.
Kati Thiemer spielt die Hochs und Tiefs hochemotional, man glaubt sie in ihren Grundfesten für immer erschüttert. Umso mehr stört das abrupte Happy End. Das Versagen der Behörden scheint keinen Nebenplot wert. Der Täter, der auch seine Tochter missbraucht und in den Selbstmord getrieben hat, geistert lediglich als dunkler Schatten durch deprimierend verwahrloste Tatorte.
Diese dramaturgische Reduktion des sensiblen Missbrauch-Themas erweckt den Eindruck, als diente der Plot der im Bild omnipräsenten Regisseurin vor allem als berufliche Visitenkarte. Das ist schade, denn der raue und zugleich schlafwandlerische Ton des Anfangs ließ den Sound einer jugendlichen Verletzlichkeit anklingen, den man so authentisch im deutschen Kino nur selten angestimmt bekommt.