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Filmkritik
Sophie, gerade elf geworden, filmt ihren Vater Calum, die Sony-Kamera nimmt ihn ins Visier, produziert wackelige Bilder. Das aufgeweckte Mädchen spielt Reporterin, will wissen, wie sich ihr „130 Jahre alter“ Vater in ihrem Alter vorgestellt habe, später einmal zu sein. Calum spielt erst mit, macht ein paar seiner Ninja-Moves, doch auf ihre Frage reagiert er mit sichtlichem Unbehagen. Er will, dass sie die Kamera ausmacht. Das grisselige Videobild bricht, aber die Szene geht einfach weiter. Sophie filmt jetzt, wie sie sagt, mit ihrer „Mind Camera“. Der Vater, der sich nun neben seiner Tochter auf dem Hotelbett sitzend im Fernseher spiegelt, neben Büchern über Tai Chi, Meditation, auch Gedichte von Margaret Tait sind dabei, beginnt zu erzählen. Die Erinnerung an seinen 11. Geburtstag wirft ein kurzes Licht in eine schwierige Vergangenheit, die ansonsten verborgen bleibt.
„Aftersun“ verbindet Videoaufnahmen während eines gemeinsamen Urlaubs an der türkischen Riviera Ende der 1990er-Jahre mit Kopfkamerabildern: Erinnerungen einer mittlerweile selbst 30-jährigen Frau, verbunden mit Fragmenten der eigenen Imagination. Sie füllen Lücken, aber das Bild der zusammen erlebten Zeit bleibt dennoch unvollständig. Vielleicht war es der letzte Urlaub von Vater und Tochter, vielleicht auch ein Abschied für immer.
Liebevoll, verspielt, aber auch überfordert
Die Regisseurin Charlotte Wells lässt in ihrem lyrischen Spielfilmdebüt, das mit eigenwilligen Perspektivwechseln und Bild-Tonverhältnissen arbeitet, vieles offen. Rahmenhandlung wäre bei dem dünnen Gerippe an Jetztzeit schon zu viel gesagt. Eine Frau im Stroboskoplicht auf einer Tanzfläche, dann, einmal ganz kurz, nach dem Aufwachen. Sie lebt mit einer Frau, ein Baby weint.
Auch ein Sommerfilm wird nicht daraus. Das Urlaubsresort ist bescheiden, man hört Baustellenlärm, und weil das Zimmer nur ein Doppelbett hat, gibt sich der Vater mit einem Klappbett zufrieden. Calum, vom Sophies Mutter geschieden und weit weg in London lebend, ist ein junger Vater; von den Jugendlichen am Billardtisch wird er für den großen Bruder des Mädchens gehalten. Wells zeigt ihn durch Sophies Augen als liebevoll, verspielt, manchmal aber auch überfordert; seine berufliche Situation ist instabil, eine Drogenvergangenheit wird angedeutet. Irgendetwas arbeitet in Calum, nagt an ihm, drückt ihn nieder. Man sieht ihm die Anstrengung an. Wie er sich an seinem Taucheranzug abmüht, wie er sich für seine Tochter anstrengt, fröhlich zu sein und für gute Laune zu sorgen. „Under Pressure“, singt David Bowie. Und im Blur-Song „Tender“ wird um Heilung gebeten.
Hartnäckig schieben sich in die Beobachtungen des unbeschwerten Zeitvertreibs – Abhängen am Pool, Abendessen beim Animierprogramm, Ausflüge – Momente der Irritation und Beunruhigung. Wells zieht das Uneindeutige und Bedeutungsoffene Andeutungen und spekulativen Wahrheiten vor. Ein unter einem Handtuch sich abzeichnender Kopf, dazu tropfende Geräusche, ein Atmen. Auch Rückenansichten sind wiederholt zu sehen. In einer frühen Szene verlagert sich die Perspektive von dem „stumm“ auf dem Balkon tanzenden Calum zu der im Hotelzimmer schlafenden Sophie. Man hört sie atmen.
Erste schüchterne Küsse
Sophies Blicke gelten dem Vater ebenso wie den etwas älteren Jugendlichen in der Ferienanlage. Durch das Loch in einer Toilettenwand beobachtet sie zwei Mädchen, die sich über sexuelle Erfahrungen austauschen. Am Pool ein knutschendes Paar und die Suche nach der richtigen Bezeichnung dafür – „tonguing“, „sucking“, „nipping“. Mit einem gleichaltrigen, etwas ungeschickten Jungen tauscht Sophie erste schüchterne Küsse aus.
„Aftersun“ steht mehrfach kurz vor einer dramatischen Zuspitzung. Bei einem Karaoke-Abend lässt der Vater Sophie hängen; allein auf der Bühne singt sie sich mit schiefer Stimme tapfer durch „Losing My Religion“ und rächt sich mit einer verletzenden Bemerkung über seine Mittellosigkeit. Unheilvolles kündigt sich an. Doch am Morgen liegt der Vater doch wieder im Bett, ein neuer Ferientag beginnt: mit einem Ausflug ins Schwefelbad.
Sie fände es schön, dass sie den gleichen Himmel teilen würden, sagt Sophie einmal. Auch wenn man nicht zusammen sei, so sei man es doch.