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Filmkritik
Ein geselliges Beisammensein in einer weitläufigen Moskauer Altbauwohnung. Akademiker und Intellektuelle sitzen lachend auf der Couch, profilieren sich subtil über ein Ratespiel. Angestrengt bemüht sich die schüchterne Laura (Seidi Haarla), berühmte Zitate den richtigen Autoren zuzuordnen, und wird dabei mit nonchalanter Herablassung korrigiert. Doch die Beschämung nimmt sie kaum wahr, zu sehr hängt sie an den Lippen der charismatischen Moderatorin Irina (Dinara Drukarowa). „Only parts of us will ever touch parts of others“, wirft diese in den Raum. Doch der berührende Satz, den niemand aus der Runde richtig errät, entstammt keinem Aphorismus eines berühmten Literaten, sondern den schwermütigen, unveröffentlichten Gedichten von Marilyn Monroe.
Etwas unbeholfen hängt Laura später an ihrer Freundin, während diese sie mit beiläufiger Eloquenz den Professoren vorstellt. Irina verweist auf das archäologische Interesse, das beide Frauen verbindet; eine gemeinsame Exkursion zu den erst vor kurzem entdeckten Petroglyphen im Norden Russlands steht bevor. Laura ist fasziniert von den in Stein gemeißelten Zeichen, die zu den frühesten kulturellen Artikulationen der Menschheit gehören. Doch die akademische Welt wirkt auf die angehende Archäologiestudentin aus Finnland einschüchternd und fremd. Ohne die erotische Beziehung zu Irina wäre sie wohl nicht hergekommen. Das Verhältnis entpuppt sich jedoch von Seiten der Russin als unverbindlich und Laura muss die Reise zu den Felsmalereien allein antreten.
Mit Fremdheit konfrontiert
Im Zug nach Murmansk trifft sie in ihrem Abteil auf den Albtraum jedes Reisenden. Laut, ausfallend und betrunken begrüßt sie ein junger Mann (Juri Borisow) auf der gegenüberliegenden Sitzbank. Ein Versuch, den Platz zu wechseln, wird von der älteren Schaffnerin ungerührt abgeblockt. Ein Rest Sowjetunion blitzt plötzlich auf, auch weil der distanzlose Fremde vom Schnaps beseelt über Großrussland fantasiert und sich über Lauras finnische Begrüßung belustigt. Da bleibt nur die Flucht in den Speisewagen, doch die Zeit im Zug erstreckt sich endlos. Sich mit dem Walkman wegzuträumen oder auf dem kleinen Bildschirm des Camcoders an bessere Zeiten zu erinnern, ist nur ein kurzer Trost. Doch dass beide Passagiere einander ausgesetzt sind, führt bald dazu, dass sie sich unfreiwillig vom Anderen berührt sehen – und schließlich auch unerwartet verwandelt fühlen.
In den Momenten, wo Laura die Bänder ihrer Musikkassette mit einem Bleistift aufrollt oder für einen Anruf während des Halts aussteigen und zum Münztelefon gehen muss, ist „Abteil Nr. 6“ von Nostalgie erfüllt. Schmerzlich wird klar, welche Freiheit heute unwiederbringlich verloren ist, in einer Zeit permanenter technologischer Personalisierung und Verfügbarkeit. Wenn der Zug durch das Dunkel der Nacht rauscht und die Lichter der Großstadt am Horizont verschwinden, erscheint die Welt so radikal offen und unbestimmt, wie sie die Band „Desireless“ dazu aus dem Off besingt: „Voyage, Voyage…et jamais ne revient“. Lauras weite Reise zu den Petroglyphen hat selbst etwas Zweckloses, ist getragen von einem subjektiven Hunger nach Erfahrung, ohne jemandem damit etwas beweisen zu wollen. Sie verbindet sich mit einer Sehnsucht nach dem Fremden und Unbekannten, in dem sie sich zu finden erhofft.
Begegnung über Grenzen hinaus
Regisseur Juho Kuosmanen verlegt in seiner losen Adaption des Romans von Rosa Liksom die Situierung der Geschichte aus der Zeit der Sowjetunion in die frühen 1990er-Jahre. Dadurch gerät auch eine politische Zeitenwende in den Blick, die aus heutiger Sicht bestürzend wirkt. Auf dem Weg zur Endstation begegnen Laura und der junge Ljoha während der Zugaufenthalte immer wieder Menschen, die von dieser Wende bewegt sind: Eine ältere Frau, die von dem Wert ihrer inneren Freiheit erzählt oder eine Gruppe feiernder Arbeiter, die den Reisenden spontan selbstgebrannten Alkohol schenken. Es ist nur ein flüchtiges Aufblitzen von Momenten, in denen spürbar wird, dass ein anderes Leben möglich ist. In den Begegnungen, die der Film zeigt, entwickelt „Abteil Nr. 6“ auch einen Hauch utopischer Kraft. Die Grenzen von Nationen und Klassenunterschieden werden im Kontakt mit anderen durchlässig.
Im Gespräch mit Laura zeigt sich der junge Mann schon bald sehr viel verletzlicher als gedacht. Sein Weg führt ihn in die harte Arbeit eines Bergwerks, bei der Leben und Gesundheit kaum einen Wert haben. Eine Reise zu machen, nur um ein paar in Stein geritzte Bilder zu sehen, erscheint ihm befremdlich und zugleich auch beglückend. Obwohl er nicht ganz begreifen kann, was Laura an den Petroglyphen bewegt, löst ihre Liebe zur Kunst doch etwas in ihm aus, das er zuvor nicht gekannt hat. Sein lautes Wesen erweist sich als Flucht nach vorn, gegen die Scham über ein von Armut und Einsamkeit gezeichnetes Leben. Ein zaghafter Nähewunsch und die Hoffnung, gesehen zu werden, verbinden die beiden ungleichen Passagiere, ebenso wie ihr Eigensinn.
Für Laura gerät das Versprechen der Reise, in den Steinmalereien eine ewige Botschaft zu finden, in den Hintergrund. Das Transitorische entfaltet seinen eigenen Sinn, nicht in der Totalität von Bedeutung, sondern den Bruchstellen, an denen Teile des Eigenen die der Anderen berühren.